Übe mit deinen Fingern und du wirst den ganzen Tag brauchen. Übe mit deinem Geist und du wirst genauso viel in anderthalb Stunden erreichen.

Leopold Auer, Violinist, Violinpädagoge und Dirigent, Lehrer von Jascha Heifetz


Wenn du als Musikerin oder als Musiker wieder ins Üben einsteigst, ist es wichtig, das Zurückkommen zur Überoutine nachhaltig zu gestalten. Es ist in deinem Sinne, mental und körperlich fit zu bleiben und dich schon beim Wiederzurückkehren nicht auszupowern.

Gerade jetzt, wo viele Musikerinnen und Musiker wieder zum Üben zurückkehren, scheint es wichtig, sich auf ein gutes Üben zu fokussieren. Mit dem folgenden Text möchte ich all jene Kollegen unterstützen, die es nicht leicht haben, sich für das Üben zu motivieren. Dieser Text ist auch für jeden, der schon motiviert übt und neue Impulse fürs Üben gut gebrauchen könnte.

Ich habe eine Liste zusammengestellt mit Ressourcen und Übetechniken, die du als Musikerin und als Musiker am Instrument und außerhalb davon ausprobieren kannst. Damit hoffe ich, dir in drei Bereichen zur Seite zu stehen: Beim 1. Punkt geht es um das Üben selbst, beim 2. darüber, wie du deine Übezeit organisierst und im 3. Punkt gebe ich weitere Empfehlungen für außerhalb des Instruments, die deine innere Motivation und körperliche Durchlässigkeit fördern, also auch indirekt das Üben unterstützen. Bist du bereit? Lass uns anfangen!


Übetechniken am Instrument

1. In kleinsten Schritten üben

Die Musiker, die in meinen Kursen mit mir arbeiten, hören diesen Satz immer und immer wieder: »Immer nur eine Sache auf einmal üben«. Das ist eines der wichtigsten Prinzipien des Flow: Die Schritte so zu wählen, dass sie gut verdaulich sind – und vielleicht erstmal so verdaulich, dass sie uns als „viel zu leicht“ erscheinen. Das ist in Ordnung. Denn die Hürde für uns selbst zu senken, kann unserer Motivation nur nutzen, denn wir erleben einen Erfolgsschritt nach dem anderen. Wieso müssen wir uns selbst immer auf Oberkante fordern? Wieso kann Üben nicht auch Wellness sein?


2. Mit größeren Chunks arbeiten

Chunks wurden im Bereich der Kognitionspsychologie so definiert, dass sie »Elemente« fürs Gehirn darstellen, die es sich merken kann. Laut Untersuchungen der University of Missouri kann sich unser Kurzzeitgedächtnis höchstens 3-4 Chunks von Informationen auf einmal merken.

Fürs musikalische Üben kann man das folgendermaßen anwenden, an einem einfachen Beispiel: Bei einem Klavieranfänger sind die Chunks einzelne Noten, bei Fortgeschrittenen sind Chunks die Akkorde, die diese Noten bilden. Je mehr Erfahrung also jemand hat, desto größer die Chunks, die sich im Gehirn bilden können. Was bedeutet das nun für diesen Übetipp, mit größeren Chunks zu arbeiten? Um beim Beispiel der Akkorde zu bleiben, könnten wir eine Passage mit vier Akkorden haben, also vier Chunks. Wir können nun versuchen, diese vier Akkorde in einer Bewegung zu spielen. Von vier Chunks haben wir die Anzahl auf einen Chunk reduziert. Dieser eine Chunk ist größer geworden. Das wäre ein Beispiel dafür, größere Chunks zu bilden.

Am Rande bemerkt, das Phänomen der schrittweise Bildung von immer größeren Chunks kennen die meisten Musiker. Doch viele warten, bis dieser Prozess von selbst geschieht. Ich lade dich ein, diesen Prozess eigenständig einzuleiten. Das klappt übrigens auch hervorragend mit Schülern.


3. Sinnlichkeit reinnehmen

Darf Geige üben ein Genuss sein? Wie wäre es damit, anzufangen, beim Spielen einen satten Kontakt in den Händen zum Instrument herzustellen? Einfach das Erforschen mithilfe des Tastsinns, auf dem Griffbrett, im Kontakt zum Bogen, auf der Saite, die Schwingungen der Saite und des Korpus’ der Geige. Wie die Geige am Schlüsselbein, am Hals und am Kinn schwingt. Das sind alles Möglichkeiten, um unsere Wahrnehmung zu öffnen und mehr Neugierde zu wecken darauf, was JETZT gerade passiert. Wir wissen nicht, was gleich passiert, denn wir erleben es gerade. Wenn wir aber unsere sinnliche Wahrnehmung ausblenden (sei es gewollt oder ungewollt), tendieren wir dazu, bereits alles zu wissen. Ja, viele möchten sich absichern. Ja, es mag gute Gründe dazu geben. Aber einfach mal die Möglichkeit öffnen, beim Üben Momente zuzulassen, die wir nicht kontrollieren, sondern ERLEBEN. Wo wir nicht wissen, was gleich passiert. Das Nicht-Wissen hat so eine Kraft. Und vor allem: das Nicht-Wissen ist LEBENDIG.

Was ich gerade mit dem Tastsinn beschrieben habe, können wir auch auf den Sehsinn oder den Hörsinn ausweiten, auf unser Sitzen oder Stehen, auf unseren Kontakt mit dem Fußboden oder dem Stuhl. Hauptsache, wir geben uns Sinneseindrücke. Ich wäre gespannt, was dann passiert…


4. Langsam üben, schnell bewegen

Irgendwann muss ich mal einen neuen Text über langsames oder schnelles Üben schreiben. Alleine die Meinung, dass langsames Üben nichts bringt, drängt mich immer zu fragen: »Und worauf achten Sie denn beim langsamen Üben??« Denn wenn es nur darum geht, die Finger langsam zu bewegen, ja, das wird nichts bringen. Ich habe an anderer Stelle schon geschrieben, dass es auch beim langsamen Üben darum geht, anderen Prozessen als den Fingerbewegungen Zeit zu lassen und sie eventuell zu beschleunigen. Hier möchte ich dazu anregen, sich sogar beim langsamen Üben schnell zu bewegen. Dadurch wird der Fokus auf die Qualität der Bewegung gelenkt. Es ist nämlich nicht zwingend notwendig, die Musikgeschwindigkeit mit der Bewegungsgeschwindigkeit gleichzusetzen, ich lade sogar ein, die beiden zu entkoppeln! Ähnlich wie die Streicher, wenn sie mit der Bogengeschwindigkeit arbeiten, trainieren wir uns ein komplexeres Bewegungsrepertoire an.


5. Langsam üben, schnell denken

Ähnlich wie beim vorherigen Punkt, die Bewegungsgeschwindigkeit von der Musik loszulösen, lade ich auch hier ein, die Geschwindigkeit des Denkens von der Geschwindigkeit der Musik zu entkoppeln. So viele von uns hören auf, schnell zu denken, wenn wir langsam spielen! Warum? Bleib schnell im Geist und du gewinnst an Zeit – das ist übrigens auch ein Werkzeug, um größere Chunks zu bilden (siehe Punkt 2). Wir können die Zeit wunderbar nutzen, um Klarheit zu gewinnen für die Abläufe, die kommen. Beispielsweise die Reihenfolge, in der bestimmte Abläufe gespielt werden müssen, wenn es um eine komplexe Stelle geht.


6. Fingersatz überprüfen

Ich hinterfrage gerne alles. Mit den Jahren, wenn ich manche Stücke wieder nach Jahren hervorgeholt habe, um sie wieder zu spielen, habe ich gemerkt: Dieser Fingersatz stimmt für mich nicht mehr – denn ich habe Neues dazugelernt und bin ökonomischer damit geworden. (Mit der Bewegung bin ich alls andere als ökonomisch, aber mit dem Fingersatz achte ich extrem darauf.) Ein Überprüfen des Fingersatzes kann dazu führen, neue Chancen zu entdecken für effizienteres Spiel. Ich kann nicht oft genug betonen, dass das beim Klavier oder generell allen Tasteninstrumenten das A und O ist. Zusätzlich bitte ich zu beachten, und das gilt wieder insbesondere für Tasteninstrumente, dass betimmte Fingersätze mit einer bestimmten Bewegung einhergehen – es reicht einfach nicht, den richtigen Finger auf die richtige Taste zur richtigen Zeit zu setzen. Auch dadurch können neue Möglichkeiten für die Bildung von größeren Chunks erschlossen werden.


7. Schaffe dir eine frische Version deiner Noten an

Ein Klassiker, insbesondere für sogenannte Pflichtstücke, die man immer und immer wieder übt und auch vortragen muss. So oft wurden diese Werke in den späten Teenagerjahren gelernt, und man spielt sie auch nach 20 Jahren noch mit derselben zerkritzelten Notenausgabe. Doch wie ich in einem anderen Beitrag geschrieben habe – wir haben uns in dieser Zeit um Bände verändert. Und es gibt nichts, was den persönlichen Blick auf das Stück aus der jetzigen Perspektive ersetzt. Erst dadurch ist ein neuer Blick auf das Werk möglich – und das ist das beste, was uns passieren kann.



Tipps, wie du dir mehr gute Zeit zum Üben verschaffst

8. Etabliere störungsfreie Zeiten

Wir können uns vor ihnen kaum retten: die Benachrichtigungen und die E-Mails und die Nachrichten und die Töne und Hinweise. Die Waschmaschine piept, der Wasserkocher piept, sogar manche Toaster piepen. Alles versucht gerade, unsere Aufmerksamkeit zu erreichen. Das kann mit der Zeit unerwünschte Effekte mit sich bringen, denn das Gehirn wird darauf gepolt, Unterbrechungen zu erwarten und beginnt, sie selbst zu suchen. Das ist eines der Gründe, warum Musiker sich nicht gut beim Üben konzentrieren können, beim Konzertieren ganz zu schweigen. Der Stress, wenn man beim Konzert auf einmal merkt, ich werde immer wieder abgelenkt. Wir haben es hier mit einem Gehirn zu tun, das Unterbrechungen ERWARTET. Das können wir ändern.

Wie du deine Geräte einstellst, ist deine Sache; ich habe bei mir alle Benachrichtigungen ausgeschaltet, außer die von den Nachrichten Apps. Ich habe keine Social Media Apps auf dem Handy, und ich habe mein Handy immer auf lautlos und ohne Vibration. Wenn ich übe, gehe ich auf den Flugmodus, oder ich habe das Handy dort, wo ich es nicht sehen kann. Laut Studien soll alleine das Handy in greifbarer Nähe zu haben die Fähigkeit senken, dass man sich konzentrieren kann.

Daher ist mein Tipp für dich, dir selbst störungsfreie Zeiten zurechtzulegen, in denen du weder Anrufe entgegen nimmst, noch für andere da bist. Wenn du wenige Zeit davon hast, kann vielleicht erstmal eine halbe Stunde reichen, oder eine Stunde am Tag. Eine, in der du weißt, dass du dich vollkommen auf die Musik konzentrieren kannst.


9. Setze dir einen Timer

Laut Parkinsons Gesetzt lässt sich Arbeit, gleich einem Gummiband, auf unbestimmte Zeit ausdehnen. Anders gesagt, die Tätigkeit dauert so lange, wie man Zeit dafür bekommen hat: Wenn du dir eine Woche gibst, die Etüde zu lernen, lernst du sie in einer Woche. Gibst du dir drei Wochen, dann dauert es die vollen drei Wochen. Daher empfehle ich, proaktiv die Zeit zu limitieren, die du dir zum Üben gibst. Das kannst du sowohl auf die Übezeit pro Tag beziehen, wie auf die Zeitspanne, in der du ein Stück geübt haben sollst (eine Woche, einen Monat, etc). Wenn wir auf die tägliche Übezeit schauen, ist die Pomodoro-Technik eine der bekanntesten, um sich die Zeit einzuteilen. Erinnernd an eine Küchenuhr in Form von einer Tomate (Pomodoro), soll man einen Timer auf 25 Minuten stellen und in dieser Zeit komplett störungsfrei und konzentriert arbeiten (das heißt, Telefon auf Flugmodus, etc). Nach den 25 Minuten kann man eine kurze Pause machen, um Wasser zu trinken oder sich zu strecken, und danach wieder einen Pomodoro-Timer setzen.

Dies führt dazu, dass man bereiter ist, sich nicht ablenken zu lassen, dadurch, dass der Zeitraum limitiert ist. Der viel wichtigere Aspekt ist jedoch, dass wir dabei unser Gehirn trainieren, keine Ablenkungen zu erwarten. Dadurch erreichen wir eine vertieftere Konzentration und haben Raum, wirklich in den Flow zu kommen. Denn auch Flow braucht Rahmenbedingungen, diese Zustände kommen nicht einfach so.


10. Trickse dich selbst aus

Eigentlich musst du jetzt üben, aber du findest immer noch etwas anderes zu tun? Die Küche aufräumen und gründlich putzen oder die Winterkleidung aussortieren? Alles, nur nicht üben? Wenn du nicht üben willst, aber eigentlich schon (ich glaube, du weißt, was ich hier meine), kannst du dich selbst mit einer einfachen Anweisung »überlisten«. Du stellst dir einen Timer auf zehn Minuten und beginnst zu üben. Nach den zehn Minuten darfst du aufhören. Das ist die 10-Minuten-Regel, die ich auch gut und gerne anwende, wenn ich keine Lust habe. Erstens hast du damit am Ende schon geübt, zweitens ist es oft so, dass wir einfach weitermachen, weil auch manchmal beim Üben selbst die Lust aufs Üben kommt.

Eine weitere Form, durchs Hintertürchen mehr zu üben, obwohl du nicht willst, ist die Zwei-Tage-Regel. Manchmal möchte man ja einen Tag auslassen, und manchmal geht’s ja auch nicht anders. Life is happening all the time… 😅 Laut der Zwei-Tage Regel darfst du einen Tag auslassen, aber keine zwei Tage hintereinander. Das bedeutet, im schlimmsten Fall, selbst wenn du alle zwei Tage übst, bleibst du trotzdem dran. Ich denke, gerade dieses Dranbleiben führt über kurz oder lang zur Motivation, denn erst durchs Handeln sehen wir ja Veränderung, und die kann sehr motivierend sein.


11. Übe vor allem, wenn du frisch bist

Nur du weißt, welche deine beste und frischeste Zeit des Tages ist. Ich gebe dir einen Tipp mit: Nutze diese Zeit für die Tätigkeit, die dir am Wichtigsten ist. Bei Musikern, die Konzerte bestreiten, ist das definitiv üben. Akquise kann man auch später am Tag betreiben, Telefonate kann man auf einen bestimmten Vormittag legen. Doch die Tätigkeit, die unsere Qualität garantiert, ist und bleibt das Üben.

Ich empfehle daher, die Ablenkungen vor dem Üben (Nachrichten, lustige Videos, Soziale Netzwerke, Anrufe) auf ein Minimum zu reduzieren. Dann sich hinzusetzen und die ersten eine oder zwei Einheiten machen, und dann erst sich diesen Ablenkungen zuzuwenden. Wie oft wollten wir »nur mal kurz« in die E-Mails schauen und zack, sind 1,5 Stunden weg! Nix da. Am Besten auch in die E-Mails oder in die Soziale Netzwerke mit einem Timer reingehen.

Denk daran: Du wirst nie bereut haben, zuerst geübt zu haben.


12. Führe ein Übetagebuch

Sehr hilfreich, besonders wenn man dabei ist, sich ein komplexes Repertoire zu erarbeiten, ist ein Übetagebuch. Das muss nichts Kompliziertes sein, nur ein kleines Notizheftchen, in dem du aufschreibst, was an dem Tag relevant war fürs Üben. Ich habe besonders zu Studienzeiten Übetagebücher verwendet, um mein Repertoire aufzuschreiben, um meinen Fortschritt zu dokumentieren und dann auch um diesen mit meiner tatsächlich geübten Zeit in Relation zu setzen. Ich fand dabei heraus, wie lange ich gebraucht habe, um bestimmte Stücke zu lernen. Ich konnte zurückverfolgen, wie viele Stunden ich überhaupt am Tag geübt hatte (so oft vergessen wir solche Dinge): Während meines Studienabschlusses waren es 3,5 oder maximal 4,5 Stunden pro Tag – mehr ging da nicht. Ich übe sehr konzentriert und daher reichten mir zu dieser Zeit 3-4 Stunden maximal am Tag. Im Übetagebuch kann ich außerdem notieren, was noch fehlt, was ich in der nächsten Übestitzung machen möchte, was gut gelaufen ist, was mein Eindruck aktuell ist. Kurz: Es ist ein wunderbares Werkzeug, mehr Bewusstsein für den eigenen Fortschritt zu schaffen. Mich selbst motiviert das sehr!

Abgebildet eine Seite aus einer beliebigen Woche des Jahres 2005.


13. Verlasse dich nicht auf deine Willenskraft

Wir haben alle nur eine begrenzte Menge an Willenskraft jeden Tag zur Verfügung. Alleine auch aus diesem Grund empfehle ich, das Üben an erste Stelle zu setzen. Es gilt, uns das Üben so leicht wie möglich zu machen – das könnten wir beispielsweise mit der 10-Minuten-Regel tun, siehe Punkt Nummer 10. Ebenso können wir unser Üben offensichtlich machen – dass wir alles am Abend vorher vorbereiten, dass wir morgens direkt ins Üben einsteigen können. Vielleicht liegt das Instrument griffbereit auf dem Tisch, die Noten sind in der richtigen Reihenfolge sortiert, die drei wichtigsten Stellen, die man an dem Tag üben möchte, am Vorabend im Übetagebuch notiert. Kontakt zu anderen Musikern, die gerade auch in einer Übephase stecken, kann sehr motivierend und hilfreich sein. So kann man Erfahrungen und Eindrücke austauschen, und man fühlt sich nicht so alleine damit!


14. Mache ausreichend Pausen

Anknüpfend an Punkt Nummer 9, finde ich es sehr wichtig, Pausen zu machen. Insbesondere, wenn man im Flow ist und man die Zeit um sich herum vergisst, kann man schon mal alles vergessen, auch dass man etwas essen oder trinken könnte. Mit den Pausen ist es wie mit dem Trinken – wir spüren es nicht unbedingt, wenn wir Durst haben. Aber wenn wir eine Flasche Wasser an die Lippen halten, können wir auf einmal nicht mehr aufhören zu trinken. Ein interessantes Phänomen, jetzt noch auf das Trinken bezogen, dass wir oft das Gefühl von Durst mit dem Gefühl für Hunger verwechseln. Wenn wir merken, dass wir durstig sind, ist es eigentlich schon zu spät. Genauso ist es mit den Pausen. Solange wir frisch sind, sollten wir uns diese Pausen gönnen. So schöpfen wir stets aus dem Vollen!



Was du außerhalb des Instruments noch machen kannst, um dein Üben zu unterstützen

15. Meditieren

Stell dir vor, dein Leben ist wie ein Browserfenster. Wie viele Browserfenster hast du zur gleichen Zeit geöffnet? Nun stell dir vor, es gäbe ein Browserfenster darunter, in dem nichts ist. Einfach nur Raum. Wir brauchen diesen Raum, in dem nichts passiert. Alleine aus dem Grund, weil wir uns nicht so schnell entwickelt haben wie der Informationsfluss. Wir sind täglich mit einer unendlichen Anzahl an Reizen konfrontiert. Alles scheint darauf ausgerichtet zu sein, dass es immer weiter geht. Du könntest unendlich lange durch dein Feed scrollen. Nachdem eine Folge deiner Serie fertig geschaut ist, läuft bereits die nächste Folge automatisch an. Tatsache ist, wir können nicht alles konsumieren und tatsache ist auch, die Reizüberflutung ist eine Realität. Manche merken das, manche nicht. Ähnlich wie das Beispiel mit dem Trinken aus Punkt Nummer 14, gilt es auch hier, vorbeugend zu arbeiten und innerlich den Platz zu schaffen. Raum, wo nichts stattfindet. Raum, wo alles in uns landen kann, sinken kann. Raum, dass wir wieder zu Raum werden – denn ohne Raum kann keine Resonanz stattfinden.

Meditieren kann für jeden ganz anders aussehen. Ich mache gerne eine Präsenzmeditation, in der ich einfach sitze und die Augen schließe, und spüre, wie es mir gerade körperlich geht, mental, emotional. Schauen, was es gerade gibt, in diesem Moment. Präsent bleiben damit. Ich habe schon so viele beglückende Erfahrungen sammeln können beim Meditieren, und immer geht es mir besser in Zeiten, bei denen ich regelmäßig meditiere.

Der wichtigste Effekt beim Meditieren ist für mich, dass ich besser erkennen kann, welche Gedanken mir gut tun und welche mir nicht gut tun. Wenn du mit dem inneren Kritiker zu tun hast, könnte das eine Möglichkeit sein, damit umzugehen.


16. Morgenroutine

So, wie ein Tag beginnt, kann es über den Rest des Tages entscheiden. Das magst du wahrscheinlich auch mal erlebt haben. Die Morgenroutine ist dafür gedacht, dir am Anfang des Tages einen guten Start zu bieten, ein Ritual, in dem du Dinge für dich tust, die dir gut tun. In der Regel ist mit Morgenroutine alles gemeint, was vor dem Frühstück kommt. Das kann zum Beispiel Meditieren sein, aber auch Bewegung, Tagebuch schreiben, etwas Neues lernen, ein heißes Getränk deiner Wahl, Gebet, was immer dir Kraft am Morgen gibt. Die Morgenroutine kannst du, je nach Lebenslage und Bedürfnis, ganz kurz machen oder bis zu einer oder anderthalb Stunden ausdehnen. Da ich seit vier Monaten meine Ernährung umstelle, ist meine Morgenroutine zur Zeit noch sehr auf die Ernährung fokussiert. Ich versuche zur Zeit, wieder mehr Meditation und Bewegung gerade in der Morgenroutine unterzubringen. Schreiben ist für mich auch sehr wichtig – wenn ich schreibe, merke ich, dass ich ausgeglichener bin. Deshalb gehört Schreiben für mich ebenfalls dazu. Wir sind ja selbst immer in Veränderung, daher ist es wichtig, immer wieder auf uns zu hören, was wir gerade brauchen. So kann sich unsere Morgenroutine mit uns zusammen entwickeln.


17. Grenzen setzen

Damit wir unser volles Ja zu etwas geben können, brauchen wir ein Nein zu allen anderen Dingen. Ich weiß, dass viele Musiker nicht gerne absagen bzw Grenzen setzen. Sei es in der Zusammenarbeit mit Auftraggebern (»Könnten Sie nicht doch dieses eine super komplizierte Stück bei der Trauung nächste Woche spielen, jetzt wo wir schon vor Monaten das Repertoire ausgesucht haben?«) oder im Zusammenleben mit anderen Menschen (»Kannst du nicht mal schnell …?«). Das Telefon klingelt, die E-Mails wollen beantwortet werden. Ich weiß, es ist schwierig, sich da zu entziehen. Beantwortete E-Mails geben einem das Gefühl, etwas getan zu haben. Allerdings vergessen viele, dass das, was sie getan haben, nicht ihre eigenen To-Do's waren, sondern die To-Do’s der anderen Menschen.

Wenn wir morgens aufstehen und in aller Regel am erholtesten sind, wäre es nicht günstig, sich sofort mit den Benachrichtigungen unserers Telefons oder mit unseren E-Mails zu beschäftigen. Wir müssen uns Räume schaffen zum Üben, sodass wir Zeit haben, in den Flow zu kommen, und eine vertiefte Konzentration zu erforschen. Nein sagen ist gleichzeitig auch ein Ja zu uns selbst und unserer Musik – es liegt an uns, diesen Bereich zu schützen.


18. Körperübungen

Bewegung an sich ist erstmal wichtig. Noch viel wichtiger wird es, sobald wir in einer bestimmten Spielposition viele Stunden verbringen, dass wir uns ausreichend und in guter Qualität bewegen. Auch außerhalb des Übens sitzen wir viel herum, gerade auch nach diesen endlosen Monaten des Lockdowns und über den Winter haben viele Musikerinnen und Musiker den Zugang zu ihrem Körper und die Freude an der Bewegung verlernt. Einfach nur verlernt. Gerade für Musiker, die viel üben, empfehle ich eine regelmäßige Bewegungsroutine. Viele Arten von ganzkörperlicher Bewegung sind gut geeignet, um Spannungen zu entlasten und den Körper zu regenerieren: Spazieren, Joggen, Schwimmen, Fahrrad fahren, Yoga (siehe dazu meinen Artikel mit Tipps für Yoga praktizierende Musikerinnen und Musiker), etc. Ich persönlich ergänze diese Formen von ganzkörperlicher Bewegung mit den Körperübungen der Resonanzlehre, auch Klangbewegungen genannt. Diese Übungen sind darauf ausgerichtet, den Körper des Musikers dahingehend zu trainieren, dass der Klang oder die Musik gut durch den Körper fließen kann. Dass der Körper des Musikers also zu einem regelrechten Resonanzkörper wird.

Damit können wir einen wichtigen Teil unseres Musizierens außerhalb des Instruments erfüllen, wenn wir nämlich dem Körper beibringen, dass 1. Bewegung Freude macht, 2. Bewegung gleich Kommunikation ist und 3. der Fußboden ein Kooperationspartner für Kraftaufbau werden kann. Näheres zum Thema Kraftaufbau mit dem Boden erläutere ich in meinem kostenlosen E-Book »Fünf Wege zum Flow«.

Das Beste daran ist: unser Körper lernt, sich auch im Alltag musikalisch zu bewegen. So können wir uns beim Üben selbst direkt auf die Musik konzentrieren.

Abgebildet sind die Videos der Körperübungen der Resonanzlehre im Stehen und im Sitzen.


19. Mentales Üben

Es gibt einige Wege, mental die Musik zu üben, die wir spielen. Die vielleicht extremste Methode, die ich kennen gelernt habe, ist die sogenannte Leimer-Methode, die vor allem sein Schüler und ebenfalls Pianist Walter Gieseking berühmt machte.

Es geht prinzipiell darum, ein Stück außerhalb des Instruments auswendig zu lernen und erst dann aufs Klavier zu bringen. Diese Technik, die natürlich bei allen Instrumenten Anwendung findet, erfordert jedoch natürlich eine gewisse Vorerfahrung, denn sonst könnten wir nicht wissen, welcher Finger für welche Taste verwendet wird. Außerdem braucht es eine ungeheure Menge an Konzentration, denn man kann nicht „einfach so“ spielen, sondern braucht und trainiert ein hohes Grad an Bewusstsein.

Ich habe diese Methode angewendet vor einigen Jahren, als ich nach einem Meisterkurs nach Hause zurückkehrte. Es war Sommer und ich hatte schon lange Lust gehabt, die Fantasie Impromptu von Chopin zu lernen. Ich hatte im Meisterkurs meine Fähigkeiten mit kleineren und kürzeren Stücken trainiert. Bei der Fantasie Impromptu ging ich Taktweise vor und wegen der vielen Wiederholungen des Materials brauche ich wenige Wochen, um den ersten Teil komplett Auswendig zu spielen, jeden Tag ein bisschen. Es war sehr faszinierend, aber am Ende auch etwas ermüdend. Wir alle brauchen dann doch den Kontakt zu unserem lieben Instrument, und ich bin eine Verfechterin eines sinnlichen Übens – also eines, das die Sinne live und in Farbe mit einbezieht. Als Möglichkeit finde ich diese Art des Übens jedoch sehr bereichernd, etwa, wenn man eine bestimmte Passage auf andere Art und Weise lernen möchte.


20. Klarheit in der Zielsetzung

Von Bedeutung ist auch, ob wir uns dessen bewusst sind, was wir an einem bestimmten Tag oder in einer bestimmten Übesitzung erreichen wollen. Oft kommt es mir vor, als würden sich Musiker hinsetzen und einfach spielen und dann schauen, was passiert und damit dann ein bisschen arbeiten. Das muss jedoch nicht unbedingt zielführend sein. Besonders, wenn wir zu einer bestimmten Zeit vorspielreif sein wollen, würde ich empfehlen, für uns selbst klare Ziele zu definieren. Ob wir die erreichen oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Selbst wenn wir sie nicht erreichen, so haben wir etwas Neues und Wertvolles über uns selbst gelernt. Und wenn wir sie erreichen, so können wir wissen, den einen Schritt gegangen zu sein. Besonders der Fokus, den eine klare Zielsetzung mit sich bringt, finde ich am wertvollsten. Wenn ich in diesem Artikel etwas an dich als Leserin und als Leser mitgeben kann, ist es, dass wir uns immer wieder daran erinnern können, uns zu fokussieren – uns selbst und unserer Umgebung zuliebe.


21. Dein Warum

Kommen wir zur Mutter aller Fragen: Warum möchtest du üben? Was liegt dahinter, was ist deine Motivation? Ganz gleich, ob ich Fokussierung unterrichte, musikalische Emotion, oder wie man die Beziehung zu seinen Schülern verbessert, diese eine Frage zieht sich durch alle meine Kurse. Denn die Antwort findet sich nur in dir, und sie informiert alle deine Handlungen. Was ist dir wichtig in deinem Leben und wie kannst du diese Dinge, die dir wichtig sind, in deinem Alltag ausdrücken? Wenn du das herausfindest, könnte es nämlich sein, dass du auf die Antwort hinter Fragen kommst, beispielsweise, warum du die Freude am Musizieren verloren hast. Solche Meldungen bekomme ich immer wieder in der letzten Zeit, und auf Anhieb kann man das vielleicht nicht direkt beantworten. Eine Verbindung mit dem, was dir wirklich am Herzen liegt, sei es dein Wohlbefinden, oder die Gesundheit deiner Familie, oder auch auf der Bühne stehen, kann
letztendlich zum Motor, zum Antrieb für dein Üben werden. Wenn man weiß, warum man etwas macht, wird alles auf einmal ganz klar.

Denn das verrückte dabei ist: Die meisten von uns sind selbständig in diesem Musikerberuf. Wir geben uns selbst unsere Arbeitszeiten, wir suchen uns unsere Auftraggeber, wir spielen, üben, machen Konzertakquise. Wir machen das, weil wir es so gewählt haben. Es ist auch in unserem Fall so wichtig, dass wir uns selbst fragen, wofür wir das Ganze hier machen.

Der Weg in Musik ist, weiß Gott, nicht der leichteste – und doch ist er wunderschön, gibt er uns die Gelegenheit, uns selbst und unseren Zuhörern ein Stück Unendlichkeit zu schenken, Zuversicht, Berührung, Vertrauen – und vor allem Wahrheit. Musik ist das, was wir gerade jetzt alle so dringend brauchen. Etwas, das wirklich, durch und durch, mit aller Gewissheit wahr ist.

Es liegt an uns Musikern, diese Wahrheit in der jetzigen Zeit weiterzutragen.




Fünf Wege zum Flow







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