Ein junger und ein älterer Mann sitzen nebeneinander auf einem Sofa und schauen sich ein Video auf einem Tablet an. Es ist ein Konzertmitschnitt von 2014. Menahem Pressler, der ältere von ihnen, hatte mit den Berliner Philharmonikern zu Sylvester 2014 das Klavierkonzert KV 488 von Mozart gespielt – mit sage und schreibe 91 Jahren. Ein großartiger persönlicher Erfolg. Nur, dass Pressler sich gesundheitlich nicht so gut dabei gefühlt hatte.

Bei seiner Rückreise in New York hatten die Ärzte festgestellt, dass er ein inoperables Herzleiden hatte. Menahem Pressler, der bis dahin (als Erinnerung: mit 91 Jahren) einen straffen Unterrichts- und Konzertplan als Pianist verfolgt hatte, würde nie wieder fliegen können. Nicht, dass sein Herzleiden wirklich inoperabel war: In Wahrheit traute sich kein Arzt an den Fall ran. Niemand war bereit dazu, das Risiko auf sich zu nehmen.

Lieber die Finger davon lassen und "nicht der sein, der Schuld an seinem Tod ist".

Doch die Tatsache, von nun an nicht mehr international zu konzertieren und zu lehren, wollte Pressler keineswegs hinnehmen. Musik spielen und die junge Generation unterstützen – das ist sein Leben.

Ein junger Chirurg sagte: "Ja, ich sehe eine reale Chance." Das ist der junge Mann, Dr. Virenda Patel, der nun neben Menahem Pressler sitzt und sich das Video mit ihm anschaut.

Beide sehen im Video, wie Pressler die letzten Akkorde des Konzerts auf dem Klavier spielt, wie Sir Simon Rattle die Berliner Philharmoniker, damals noch als Chef, dirigiert. Ab und zu hebt Pressler beim Zuschauen seine linke Hand, als ob er selbst das Orchester leiten würde. Dann, der Schluss des Konzerts, der Beifall des Publikums.

Beide, Pressler und Sir Simon, schauen sich an, Pressler steht auf, sie umarmen sich. Man sieht, dass Sir Simon etwas zu ihm sagt. Pressler küsst Sir Simon liebevoll auf die Wange.

»Das war ein triumphierender Moment« sagt Dr. Patel, während er das Tablet weglegt.

»Das, so dachte ich, war in der Tat der Höhepunkt meines Lebens«, antwortet Menahem Pressler.

Eine Woche nach besagtem Erfolg in der Berliner Philharmonie, der im Video festgehalten ist, lag er in Boston auf dem Operationstisch bei Dr. Patel. Bei dem Mann, der sich das traute, was sich keiner getraut hatte.


Menahem Pressler spricht mit Dr. Patel Dr. Patel und Menahem Pressler unterhalten sich über den medizinischen Eingriff.


Die Operation war ein Erfolg, und Patel und Pressler sprechen über die spezielle Technik, die der Chirurg hier angewendet hatte. Letztendlich ist der Beitrag eine Werbemaßnahme des Krankenhauses, doch für mich ist es so viel mehr.

Erstens, es braucht wirklich Mut, seine Hand zu heben und zu sagen: »Ich sehe eine Chance. Ich sage Ja. Ich traue mich.« Patel erläutert genau, warum er Erfolgsaussichten hatte. Anhand des aktiven Lebensstils von Pressler, der mit 91 wahrlich eher dem eines 61-jährigen glich, konnte er schließen, dass er bei ihm optimistisch sein konnte. Dass sein Herz es schaffen würde.

Zweitens, die Hingabe des Pianisten an diesen Moment. Er sagt selbst zu Patel: »Nun, als es hieß, eine Operation sei möglich, dachte ich, 91 ist eigentlich ein gutes Alter, um sich von der Welt zu verabschieden...«

Bedeutet für mich: Er war eher dazu bereit, das Risiko einzugehen, als sein Leben zu ändern und nicht mehr mit der Musik um die Welt zu reisen.

Ich saß selbst in diesem besagten Konzert, das sich beide auf dem Tablet auf Video anschauen. In diesem Konzert lernte ich so einiges über Musik und über das Leben. Ich erlebte, wie sich Emotion in quasi purem Stadium über Klang überträgt. Wie jemand wirklich Musik spielt und nicht Klavier. Eine Seltenheit, wie Bescheidenheit, Tugend, Musikalität, Erfahrung, Großzügigkeit in einem Menschen zusammen kommen.

So hat die Intention, die Klarheit und die Hingabe beider Männer diesen Erfolg hervorgebracht – dass Menahem Pressler ein halbes Jahr später seine konzertierenden Aktivitäten wieder aufnehmen konnte. Fast, als ob nichts geschehen sei.

Und doch war eine ganze Menge in diesem einen Augenblick geschehen.

»Als ich von der Operation aufwachte, wusste ich, dass es ein Wunder war... dass Sie etwas getan hatten, das mich zurück ins Leben gebracht hatte,« sagt Pressler.

Und was für ein Leben! Noch heute inspiriert Menahem Pressler Tausende mit seinen Lehren, seinen Konzerten, seinen Aufnahmen.

»Für Sie ist es kein Wunder«, sagt Menahem Pressler weiter zu Dr. Patel, »aber Sie kreierten ein Wunder in mir, Sie kreierten etwas so Besonderes... Ich denke, dass die Menschen, die zu Ihnen kommen werden... dass diese Menschen erfüllt sein werden mit der Liebe und der Dankbarkeit, die ich empfinde. Sie haben in mir das Leben hervorgebracht – ein Leben, das lebenswert ist. Und ich danke Ihnen.«

»Das ist die höchste Entlohnung«, sagt Dr. Patel.

»Und ich danke Ihnen«, wiederholt der Pianist. Und dann nimmt er die Hand des Chirurgen und küsst sie, als ob er die Hand seines Enkels küssen würde.

Hände, die täglich Menschen Leben geben, Hände die täglich Menschen inspirieren.

Und beim Anschauen merke ich jedes einzelne Mal, wie Tränen mir die Wange hinunterkullern. Aber es ist so wunderschön, dass ich diesen Moment immer wieder anschauen muss. Es ist irgendwie ein so essenzieller, verbindender Moment.

Musiker vergleichen sich gerne mit Chirurgen, wenn sie sagen: »In unserem Job muss niemand sterben – wenn wir Fehler machen, geht das Leben einfach weiter.« Und wir empfinden, geben wir es auch mal offen zu, eine gewisse Genugtuung dabei. Weil das einfach die Realität ist: Menschen sterben nicht, wenn wir Musiker Fehler machen.

Und doch fühlt sich das für manche Musiker genau so an.

Ja, es braucht Mut, die Hand zu erheben und für eine lebensgefährliche Operation die Verantwortung zu übernehmen.

Aber genauso viel Mut braucht es, unser Leben der Musik zu widmen.

Die wirklich wichtigen Dinge im Leben können wir nicht zählen, nicht bemessen. Musik gehört zu diesen Dingen.

Sie ist das Unbegreifbare, Unbenennbare, Undurchdringbare. Das, was wir tief empfinden, aber wofür oftmals die Worte nicht ausreichen.

Wenn Menschen sich in Klängen einfach fallen lassen können – wenn diese genau das ausdrücken, was wir empfinden. Wenn durch uns die Menschen mit etwas in Berührung kommen, das weit außerhalb des Messbaren ist. Das ist, weil wir den Mut haben, uns auf der Bühne so zu zeigen, wie wir sind: Wahre Menschen, die etwas Wahres ausdrücken.

Deshalb braucht es genau so viel Mut, unser Leben der Musik zu widmen – eines der Dinge, die unser Leben lebenswert machen.

Für Musik zu gehen ist ein lebenswertes Leben.



Fünf Wege zum Flow





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