Musikerin zu sein ist für mich erstmal so etwas wie ein Geschenk aus der Frauenlinie meiner Familie.

Meine Großmutter mütterlicherseits kam aus gutem Hause, geboren 1920, das zweite von zwei Mädchen. Nachdem sie meinen Großvater heiratete, kamen neun Kinder quasi hintereinander, meine Mutter davon das Älteste. Mit 14 hatte meine Mutter acht Geschwister.


Meine Großmutter und ich – uns verbindet nicht nur derselbe Name :)


Meine Großmutter fand etwas Zeit für Kreativität, als ihre Kinder ausgezogen waren. Sie konnte sehr schön Ölmalen – Landschaften, Stillleben und das eine oder andere Portrait hingen bei meinen Großeltern an der Wand. Außerdem hatte sie, laut Erzählungen, das Talent, den Stoff für ein Kleidungsstück nach bloßem Augenmaß und ohne Schnittmuster zuzuschneiden. Trotzdem konnte meine Großmutter keinem Beruf nachgehen – sie war die meiste Zeit Hausfrau.

Meine Mutter hingegen schaffte es, in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Gezwungenermaßen früh begann ihre Laufbahn mit 15 Jahren. Sie schloss die Schule später ab mit 28, begann Jahre danach ein Studium in spanischen Sprachwissenschaften parallel zur Bürotätigkeit. Bis dahin war sie verheiratet, ich widerum schon auf der Welt, bald danach mein Bruder, und so gab sie den Traum des Studiums irgendwann auf. Zusammen mit meinem Vater, einem absoluten Musikliebhaber, der ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie kam und der als erster der Familie Akademiker und diplomierter Ingenieur wurde, konnte sie sich nun endlich, wie die meisten ihrer Generation, auf das Wohlergehen ihrer Kinder konzentrieren.


Meine Mutter mit mir, noch bevor mein Bruder auf der Welt war.


Meinem Bruder und mir wurde Musikunterricht angeboten, Sportarten, Tanz, Museen, Malen, Konzerte, Theaterbesuche, Kinothek, Oper, Ballett. Unser Leben war voller Kunst. Die Eltern hatten uns eine Tür in eine neue Welt eröffnet, die sie selbst als Kinder nicht betreten konnten. Hinzu kamen fünf Jahre Deutschland-Aufenthalt und das Erleben einer anderen Kultur. Den Wert darin erkenne ich erst heute, damals war das alles selbstverständlich für mich.

Obgleich ich den Klavierunterricht als Kind schnell aufgab, blieb mir die Musik als Ressource erhalten. Die zwei großen Umzüge meiner Kindheit prägten mich zutiefst: einmal mit acht nach Deutschland, einmal mit 13 zurück in die Heimat Spanien, die keine mehr war. Ich war gefühlt gerade erst in Deutschland angekommen und musste wieder zurück, meine Freunde zurücklassen, wieder von vorne beginnen. Ich lag damals oft bäuchlings auf meinem Bett und weinte vor Wut. Musik hören half mir durch diese Zeit – in ihr fühlte ich mich wirklich verstanden, wie angekommen. Als Teenager sang ich in Barcelona in vielen Bands, Vokalensembles, hatte in Schulproduktionen solistische Rollen. Musik wurde zu einem Ort, an dem ich wirklich ehrlich zu mir selbst sein musste, anfangs auch der einzige, an dem es mir gelang. Es zog mich auch zum Klavier zurück. Den Klang dieses Instruments empfand ich als die intimste Erfahrung von Musik – und so entstand in mir das Verlangen, mich wieder mit dem Klavier auszudrücken. Ich beschloss, mich der Musik zu widmen – als Pianistin. Zu dem Zeitpunkt war ich 17 Jahre alt.

In der ersten Zeit begann ich, nach und nach ein Üben zu finden, das mir ermöglichen würde, die Zeit »aufzuholen«. Ich wurde immer besser darin, die Verknüpfungen in mir zu schaffen, die anderen unbewusst bereits in sich hatten. Ich übte nicht Noten, nicht einmal Bewegungen – ich übte mich darin, meinen Körper zu erforschen und immer feinere Unterschiede zu erkennen, im Fluss zu sein. Das war mein Üben. Denn ich war nicht im Fluss zu der Zeit.

Heute ist es manchmal so, dass ich es kaum glauben kann, dass ich über die metaphorische 5-Meter-Wand geklettert bin, dass ich wirklich Musikerin geworden bin. Wenn meine Hände über die Tasten gleiten, wenn ich den Kontakt spüre zum Instrument, meinen Klang höre, dann bin ich zutiefst glücklich. Ich spüre, wie sich meine Schultern entspannen, sich mein ganzer Körper öffnet, der Klang wortwörtlich durch mich durchgeht. Musizieren ist für mich ein körperlicher und seelischer Genuss. So oft war ich und bin ich dankbar, dass ich den Beruf der Musik wählen konnte, der mir nicht nur Wachstum als Mensch, sondern innere Heilung ermöglichte. Immer weicher zu werden, vor allem mit mir selbst.

In der Entwicklung von meiner Großmutter zu mir hin bin ich die Privilegierte. Ich durfte als erste in der Frauenlinie meine gesamten Ressourcen, die nicht wenige sind, nicht nur in meine Bildung investieren, sondern in die Bildung meiner künstlerischen Persönlichkeit, diese reifen lassen und dann auch noch die Musik als meinen Beruf auswählen. Für das genzenlose Vertrauen meiner Eltern, dass ich es schaffen würde, bin ich noch heute dankbar.

Mein Hören begann sich zu verändern, als ich vor 12 Jahren mit dem Cembalo anfing. Die Unterschiede im Cembalo sind so fein gegenüber dem Klavier, dass es ein bisschen “Hören mit der Lupe” ist. Ein Miniatur- Hören, wie in eine andere Welt hinein – das feine Lauschen macht mich noch weicher. Später nahm ich das Cembalo als Hauptinstrument auf. Quasi alles, was ich jemals im Klavierspiel gelernt hatte, konnte ich hier nicht mehr anwenden. Ich musste wie von vorne beginnen. Das reizte mich sehr.

Kurz danach hatte ich meine erste Resonanzlehre-Stunde, und dort ging mir endgültig die Welt auf. Ich entdeckte ein noch tieferes Hören – als ob ich noch nie vorher gehört hätte. Es veränderte mein Klang, es eröffnete mir die Freie Improvisation. Und ich verstand immer besser, was von mir als Continuospielerin gefordert wurde. Überhaupt mein ganzes Auftreten veränderte sich; ich wurde immer selbstbewusster (nicht nur als Musikerin) und erlangte irgendwann so etwas wie eine ganzheitliche Kompetenz als Tastenspielerin. Ein persönlicher Erfolg für mich, so als “Spätanfängerin” mit 17. Ich liebe es, mich durch mein Üben in ein Stück zu verlieben. Zu finden, wie ergibt das Sinn für mich, was die Person hier geschrieben hat, die Wendungen, die Harmonien? Das zu erfassen, was vor den Noten da war.

Die Stücke von anderen Menschen aufleben zu lassen, mir sozusagen eine Tür in eine neue Welt zu erschließen. Dafür gehen die Stücke durch mich – sie müssen einen Sinn für mich ergeben. Nach und nach verliebe ich mich, im Laufe dieses Prozesses, in das Stück. Natürlich gibt es Komponisten und Werke, die uns mehr erreichen als andere. Ja, es gibt tatsächlich Unterschiede in der Qualität der Komposition. Und klar können wir uns das nicht immer aussuchen, was wir spielen. Aber letztendlich ist jede Musik, die ich gerade spiele, meine Lieblingsmusik, jeder Komponist, den ich gerade spiele, mein Lieblingskomponist. Und wenn sie es noch nicht sind, dann mache ich es zu meiner Aufgabe, dass sie es werden. Ich möchte alle Musik lieben und verstehen. Vertiefen und den Sinn in einer Musik zu finden ist das, was mir den Sinn gibt, Musikerin zu sein. Und das ist es, was ich in meinem Unterricht an andere Musiker weitergebe: die Werkzeuge, dieses Gefühl des Flow, diesen Genuss, sich selbst und ihren Hörern zu schenken: Anderen die emotionale Erfahrung der Musik durch uns zugänglich zu machen – durch die Art, wie wir Musik hören, erleben, empfinden.

Denn es gibt nichts Schöneres, als das Stück, das du liebst, selbst spielen zu können, und anderen dadurch eine Tür in eine neue Welt zu eröffnen.

Und das, liebe Leute, ist an sich das größte Privileg.





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