Was lernen wir überhaupt im Studium? Fallbeispiel mit einem Kontrabassisten.

Als ich noch in der Resonanzlehre-Ausbildung war, habe ich mal einem Kontrabassisten eine Stunde gegeben. Er war damals noch Student, kurz vor dem Diplom, und an der Resonanzlehre interessiert. Alexander hieß er.

Ich begann mit ihm zu arbeiten, wie ich oft mit Musikern arbeite: zunächst hörte ich ihm zu, wie er ein Stück spielte. Dabei verglich ich seinen Klang mit seinen Bewegungen. Ich stellte mir dann die Frage: Wo ist noch Potential offen? Wie kommt die Emotion leichter in den Klang?

Bei Alexander fiel mir auf, dass es eine interessante Beziehung gab zwischen dem Schwerpunkt des Kontrabasses und seinem Körperschwerpunkt.

Dazu muss ich kurz ausholen und zum Thema Schwerpunkt etwas sagen.

Die Resonanzlehre sagt: Wenn eine Bewegung mühelos ist, führt sie zu einem vollen, resonanzreichen Klang.

Ein physikalisches Gesetz sagt: Eine Masse ist am leichtesten (mühelosesten) zu bewegen, wenn man sie vom Schwerpunkt aus führt.

Das bedeutet, dass mühelose Bewegung sich quasi daraus ergibt, dass wir uns aus dem Schwerpunkt bewegen.

Wo ist der Schwerpunkt im menschlichen Körper und warum ist er nützlich für musikalische Bewegung? Unser Körperschwerpunkt ist im Unterbauch, im Inneren der Hüfte sozusagen. Laufen wir mit Antrieb aus diesem Bereich heraus, wird das Laufen leichter als wenn wir z.B. den Brustbereich als Antrieb nehmen.

Gleiches gilt für Teilschwerpunkte im Körper. Wenn wir z. B. den Arm nehmen, bei dem der Schwerpunkt unterhalb des Ellenbogens ist (von der Hand aus gesehen), dann ergeben sich Unterschiede im Bewegungsgefühl, wenn wir den Arm aus der Hand oder aus dem Armschwerpunkt führen. 

Bei Alexander fiel mir auf, dass so wie er stand, es geradezu einlud, den Schwerpunkt des Basses mit dem Körperschwerpunkt in Verbindung zu setzen. Dass also die Bewegungen aus dem Körperschwerpunkt den Bass in seinem Schwerpunkt bewegen könnten.

Das schlug ich vor und wir experimentierten eine Weile lang.

Ein zweites Thema bezogen auf Resonanzlehre möchte ich hier kurz anbrechen, um den weiteren Verlauf der Stunde mit Alexander zu erläutern: Balancebewegung.

Vor einigen Monaten sprach ich über die enge Verknüpfung von Hören und Bewegung im menschlichen Ohr. Das spielt uns als Musiker natürlich direkt in die Hände. Wichtig ist mir hier zu bemerken: Der Gleichgewichtssinn, der sich im Innenohr befindet, führt uns zu spontanen Bewegungen, die nicht zu wiederholen sind.

Das klassische Beispiel des Ausrutschers auf der Bananenschale: damit wir nicht hinfallen, führen wir unwillkürliche Bewegungen aus - Muskelkontraktionen, die über den Gleichgewichtssinn blitzschnell veranlasst werden - mit dem Ziel, den Sturz zu vermeiden.

Dies ist ein menschliches Rettungssystem, das zur Folge hat, dass Bewegungen einzigartig und unwiederholbar sind, und im Moment entstehen.

Seht ihr, wo unser Nutzen davon als Musiker liegt…?

Wenn wir beim Musizieren in eine Balancebewegung kommen, bewegen wir uns in einer Art und Weise, die im Moment entsteht - obwohl natürlich viele Bewegungen, die feinmotorischen Bewegungen insbesondere, sehr eingeübt sind. Wenn wir jedoch die grobmotorischen Bewegungen der Balance überlassen, ergeben sich freie und spontane Bewegungen wie von selbst und nicht bewusst gesteuert, und das unterstützt die Feinmotorik, letztendlich den Klang.

Bei Alexanders Stunde am Kontrabass ging es für mich also darum, ihn einzuladen, eine Art Pendel oder Gleichgewicht mit dem Bass zu finden, aus dem heraus die Feinmotorik sich integrieren würde.

Doch irgendwie klappte das nicht ganz - vielleicht lag es auch daran, dass ich noch nicht so gut erklären konnte. Auch sah er nicht ganz ein, seinen Bass an einer neuen Stelle mit dem Körper zu berühren. Jedenfalls verging eine ganze Weile und keiner von uns war so richtig glücklich.

Und dann schlug ich Alexander vor, diese ganzen Themen beiseite zu lassen und einen neuen Versuch zu starten. Ich lud ihn ein, sein Stück so zu spielen, als würde er es gerade improvisieren. 

Er begann zu spielen und ließ eine Note nach der anderen kommen, ohne Absicht, eher im Entdeckungsmodus. Tatsächlich bekam ich nach einer kurzen Weile wirklich das Gefühl, als würde er sein Stück in diesem Moment entdecken. Und auf einmal merkte ich, dass sein Gesichtsausdruck sich veränderte, dass er anders hörte. Und da wusste ich, jetzt hat er etwas gefunden. Er fing von selbst an, in Balancebewegung zu gehen, und der Klang bekam etwas ganz Warmes. Er spielte auf diese Weise eine Weile lang.

Als er fertig war, sagte er: "So habe ich gespielt, als ich 16 war."

Und er sagte das auf einer Weise, dass ich das Gefühl bekam, er war an einem ganz tiefen Punkt angekommen, im Spielgefühl anknüpfend an diese Zeit vor 10 Jahren.

Die meisten Menschen, die ich kenne, bekräftigen, dass sie um Gottes Willen auf gar keinsten Fall die Teenagerzeit noch einmal durchleben würden. Ich gehöre auch dazu.

Jedoch birgt diese Zeit vielleicht für viele von uns etwas, das damals in uns noch zart war. Zart in dem Sinne, dass wir vielleicht auch verletzlicher waren als heute. Wir haben die Dinge vielleicht noch von innen heraus getan, haben uns erlaubt zu träumen. Das sind wesentliche Qualitäten um sich auf der Bühne verletzlich zu zeigen.

Für uns beide war allein wegen dieser Intervention die Stunde ein Erfolg. Alexander hatte etwas mitgenommen, womit er weiter forschen konnte. Ganz gleich, wo sein Bass an seinem Körper andockte. Und so verabschiedeten wir uns.

Monate später trafen wir uns wieder. Er sagte mir, er habe nach der Stunde weiter am Thema des Schwerpunkts geforscht und meinen Vorschlag, den Bass am Schwerpunkt zu bewegen, tatsächlich übernommen. Ein paar Wochen nach unserer Stunde habe er ein Probespiel gehabt und es gewonnen. Für ihn lag es an dieser Veränderung.

Dadurch hatte ich etwas Wichtiges gelernt. Egal, was in der Stunde passiert, interessant wird es erst nach der Stunde - wenn der- oder diejenige sich mit den Themen auseinandersetzt.

Es liegt ein großer Wert darin, während einer Unterrichtsstunde keine sofortigen Ergebnisse herausholen zu wollen, sondern Impulse zu geben und der Entwicklung ihren Lauf zu lassen.




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