Die Frage aller Fragen
Wie entstehen großartige und erfolgreiche Musiker? Werden sie geboren oder werden sie dazu ausgebildet? Ich denke, wir können uns einig sein, dass es höchstwahrscheinlich eine Mischung aus diesen beiden Faktoren ist. Gleichzeitig jedoch haben wir noch immer nicht den einen Faktor gefunden, die Antwort auf die eine Frage, die praktisch alle Musiker beschäftigt: Wie ist es möglich, auf einem sehr hohen Niveau Klassik zu spielen, ohne mental oder körperlich daran zu zerbrechen?
Erfolg in der Musik, das haben wir schon zu oft erleben können, hat nichts mit Talent oder Fähigkeit zu tun. (Manche Musiker haben sogar eine starke Ablehnung gegen das Wort “Erfolg” oder “Ergebnis”.) Warum gibt es Musiker, die erfolgreich sind, ohne “die Besten” zu sein, und gleichzeitig gibt es solche, die trotz Talent es nicht schaffen? Wie ist eine lange und erfolgreiche Laufbahn möglich, ohne ihre mentale oder körperliche Gesundheit aufs Spiel zu setzen? Und warum wird der neuen Musikergeneration weiterhin vermittelt, »höher, schneller, weiter« sei der einzige wertvolle Weg in der Musik?
Die sogenannten Musikerkrankheiten sind ja leider nicht ansteckend. Sie sind quasi selbst verursacht, könnte man sagen – oder auch nicht. Denn der Musikbetrieb, mit seinen unmöglichen Anforderungen, die bereits im Kindesalter beginnen, zwingt Musiker, die “es schaffen wollen”, oft dazu, über das gesunde Maß hinauszugehen. Dieses Problem ist systemisch – und darüber spricht der Film »Das Vorspiel« (2019) von Ina Weisse.
Alleine die erste Szene verrät den Ton und den Verlauf des Films. Wir sehen eine Jury, die verteilt in einem Auditorium sitzt. Zu hören ist ein Geigenstück, das gerade vorgetragen wird: hoch und runter geht es in Dreiklängen und Tonleitern, sehr souverän und mit vollem, satten Ton. Dann, ein fast unmerklicher Schlitter im Vortrag – und ein kurzer Blick zwischen zwei der Juroren genügt. “Danke”, sagt einer von ihnen und hebt die Hand, als ob er eigentlich sagen wollte: “Es reicht.”
“Das Vorspiel” erzählt die Geschichte von drei Musikern. In erster Linie gibt es die Geigenlehrerin Anna, dann noch die Geigenschüler Alexander und Jonas. Beide Jungs gehen auf das Musikgymnasium, auf dem Anna unterrichtet, doch zwischen ihnen ist ein Unterschied: Jonas ist Annas Sohn – Alexander ist ihr Schüler.
Wir Menschen lieben Geschichten. Geschichten sind der Faden, der das Gewebe unseres Lebens zusammenhält. Wir lassen uns von ihnen verzaubern, mitreißen, wir wollen unbedingt wissen, wie es weitergeht. Geschichten sind vor allem dafür da, dass wir von ihnen lernen. Wir lernen, weil wir mitfiebern, weil wir uns mitfreuen, weil wir nachempfinden, wie die Hauptfigur sich fühlt. Von dieser Geschichte aus »Das Vorspiel« können wir sehr viel lernen. Sie ist unser fachliches Pendant, auf Seiten der Musiker, zu meinem Artikel über Musikermedizin. Denn auch wir als Musiker stehen in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Musikerkrankheiten gar nicht erst entstehen. Auch wir sind gefordert, uns bessere Fragen zu stellen, um diesem Problem ein Ende zu bereiten. Und dass wir Musik als das Medium erleben und vermitteln, wofür es gedacht ist: um Menschen zu verbinden.
Einblicke in ein systemisches Problem
“Sensationell ist er nicht gerade” … “Er ist gar nicht aus sich herausgekommen” … “Wer die Technik nicht beherrscht, dem nutzt [ein eigener Ton] gar nichts, außerdem ist er nicht schnell genug, die Finger sind nicht schnell genug, er klebt auf den Saiten…”
Das sind die Worte einer Jurorin im Film, nachdem Alexander vorgespielt hat. Ein Schüler, der mit 15 großes Talent zeigt – der zwar nicht perfekt spielt, aber »dafür sind wir doch da, um ihm das beizubringen«, wie Anna antwortet. Anna sieht das Potenzial in ihm, sie möchte ihn als Schüler aufnehmen und legt von Anfang an ihr schützendes Händchen über Alexander. Er hat ein Probehalbjahr Zeit, beim nächsten Vorspiel die anderen Lehrer zu überzeugen.
Interessant finde ich als Außenstehende, wie unglaublich hoch die Latte angesetzt wird, wie die Jurorin von einem 15-jährigen spricht, mit welchem Urteil, als wäre er bereits fertig studiert oder gestandener Profi.
In Spanien sagen wir: »Um ein Omelette zuzubereiten, muss man Eier zerbrechen«, anspielend auf den Umstand, dass um etwas zu erreichen, manches andere wird daran kaputt gehen müssen. Heute gibt es unzählige Möglichkeiten, wie Musiker erfolgreich Musik machen können. Warum nehmen wir also hin, dass manche daran “zerbrechen” werden, und dass die, die es nicht schaffen, dann »eben nicht das Talent dazu haben«? Das, liebe Leserin und lieber Leser, ist die größte Lüge in unserer Branche.
Gedreht wurde "Das Vorspiel" am Carl-Philipp-Emmanuel-Bach-Gymnasium, ein bekanntes Berliner Musikgymnasium. Diese Kinder müssen einen "Haydn"-Spaß beim Drehen gehabt haben, weil, wenn man vom Film ausginge, haben sie normalerweise wenig zu lachen. Habe ich übertrieben? Ich weiß es nicht. Ich war nicht auf einem Musikgymnasium. Aber so manche meiner Klienten waren das.
Eine Person, die ein Streichinstrument spielt und ein solches spezialisiertes Musikgymnasium in Deutschland bis zum Abitur besucht hat, vertraute mir bei einer Sitzung an, sie habe sich nach besagtem Abitur selbst in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen. Das hat mir dann doch zu Denken gegeben. Wenn man sich den Film anschaut, kann man verstehen, wie es dazu kommen kann.
Anna, Alexander und Jonas: Unsicherheit, Schüchternheit, Sehnsucht
Geigenlehrerin Anna lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Berlin. Anna, die so unsicher über sich selbst ist, dass sie sogar Mühe hat, ein Mittagsgericht im Restaurant auszuwählen, bildet also die Musiker von morgen aus – spielt aber selbst schon lange nicht mehr. Das Tragen der Geige von Zuhause in die Schule und zurück, eine reine Formalität. Der Schulweg ist ihr Perimeter, ihr sicherer Radius. Verheiratet ist sie mit Philippe, einem französischen Geigenbauer, ein aufgeräumter, bodenständiger, fürsorglicher Mann, das Gegenteil ihres Vaters.
Anna hat einige offene Baustellen in ihrem Leben. Neben dem Unterricht am Gymnasium, wo sie neuerdings ihren neuen Schüler Alexander unterstützt, hat sie zur Zeit eine Anfrage von einem befreundeten Streichquintett. Sie möge doch bitte bei einer Probe in Aushilfe die zweite Geige spielen, sie probieren gerade Geiger aus, auch im Hinblick auf ein baldiges Konzert. Anna hat die Anfrage erstmal ignoriert. Als Christian, ihr Kollege vom Musikgymnasium und Cellist im Quintett, sie nochmals darauf anspricht, antwortet sie zunächst nicht. Erst, als Christian mit Annas Mann Philippe spricht, beginnt Anna, ernsthaft darüber nachzudenken.
Alexander befindet sich im Geigentunnel. Alexander ist, wie man allgemein sagen würde, fürs Violinspiel begabt. In seinen Augen sehe ich bereits die Scheuklappen: Er schaut nicht nach links oder rechts, für ihn gibt es nur die Geige. Er übt, was Anna sagt, ist extrem kooperativ im Unterricht, und obwohl er anfangs tatsächlich wenig aus sich herauskommt, sind wir als Zuschauer neugierig: er ist so jung und talentiert, was kann da noch alles passieren? Wir wollen, dass er besser wird, dass er beim Vorspiel überzeugt.
Jonas hingenen, Annas Sohn, ist anders. Im Gegensatz zu Alexander ist sein Blick offen: er sucht. Vor allem sucht er seine Mutter, die den ganzen Tag nur mit sich selbst und ihren Unsicherheiten beschäftigt ist. Jonas schwimmt zwischen seinem fürsorglichen Vater und seiner abwesenden Mutter. Sein Konflikt mit Alexander ist quasi vorprogrammiert.
Wenn ihn seine Mutter doch einmal auf etwas anderes als auf das Geigespielen ansprechen würde!
Beim Hereinkommen in die Wohnung geht sie in Jonas' Zimmer, er übt. Anstatt zu sagen, "Hey, wie war dein Tag? Ich bin wieder da", unterbricht sie ihn mit Anweisungen: "Du musst einen anderen Fingersatz nehmen, dann klappt es." Sie schaut in die Noten: "Und hier, fang doch mit Abstrich an“, radiert die Notizen ihrer Kollegin, krakelt mit fettem Bleistift neue Striche in die Ausgabe rein. "Probier’ mal so!" Aber sobald er die Geige anlegt und anfängt, zu spielen, ist sie schon wieder woanders, verlässt den Raum, Jonas bleibt alleine mit der Anweisung zurück und mit seiner Sehnsucht für die Mutter.
Der erste runde Höhepunkt - als die Geschichte kippt
Anna gelingt es als Geigelehrerin, nach und nach Alexander ein wenig aus sich herauslocken: "Du spielst doch gerne schnell, oder? Probier doch mal dieses Stück hier von Bach."
Das Presto aus der e-moll Partita.
Dieses Stück wird ab dem Moment quasi der wichtigste Fokus des Unterrichts. Alexander soll es in der Zwischenprüfung vortragen, die über seinen Verbleib am Gymnasium entscheiden wird. Das Stück ist schwer, und es ist schnell, aber Anna glaubt an das Talent von Alexander und gibt ihm Zeit. Sie arbeitet konzentriert mit ihm, und Alexander wird mit den Wochen immer besser.
Doch plötzlich spitzt sich die Lage zu. Die Sache kippt.
Und zwar finde ich genial, wie die Regisseurin diesen Moment zeigt: In einer dieser Geigenstunden, während Alexander das Presto von Bach spielt, überkommt mir beim Zuhören die Gänsehaut. Es wird immer runder im Ton, immer weicher im Blick, und auf einmal spüren wir Alexander in seiner Musik. Er strahlt mit der Kraft und der Zartheit seiner Jugend, er spielt und spielt, und man möchte ihm nur noch weiter zuhören, so schön ist es im Ton, so sehr spüren wir den Menschen dahinter. Wir schweben mit ihm und vergessen den Moment. Und genau in diesem Augenblick bekommt Alexander Nasenbluten. Und das ist der Moment, in dem seine Geschichte kippt.
Abrupt bricht die Musik ab, er wird sofort mit einem Taschentuch versorgt. "Geht schon", sagt er, und geigt weiter. Doch das Bluten setzt wieder ein; die Geigenstunde muss unterbrochen werden. Ab diesem Punkt spitzt sich die Lage zwischen Anna, Alexander und Jonas zu.
Eine Musik, die Familien spaltet
Es gibt noch eine andere Szene, die verdeutlicht, wie in Annas Familie Musik nicht verbindet, sondern trennt. Gleich nach der Aufnahmeprüfung am Anfang des Films feiert Anna ihren Geburtstag im Kreise Ihrer Lieben: Philippe und Jonas sind da, und auch der Vater von Anna und seine Frau. Philippe greift zur Gitarre singt und ein Lied für sie. Weit entfernt von der musikalischen Exzellenz, die Anna in ihrem beruflichem Leben erlebt, singt er ein einfaches Stück, ein französisches Chanson. Philippes Lied ist einfach, direkt, kommt vom Herzen, Anna ist beglückt. Trotzdem bekomme ich beim Zuschauen das Gefühl, dass diese Musik nicht ganz in diese Familie passt.
Dann sagt der Großvater zum Jungen: "Spiel doch mal etwas auf der Geige." Jonas schaut ihn an, schüttelt sehr langsam den Kopf, schaut seine Mutter an. "Du musst nicht", sagt Anna. Aber Jonas hat verstanden, er hat eigentlich keine Wahl. Er steht auf, um die Geige zu holen.
So manche Stunden verbringt Jonas in der Geigenbauwerkstatt seines Vaters - der einzige in der Familie, der eine gesunde Beziehung zur Musik hat. Philippe baut Jonas auf, kann viele seiner Frustrationen auffangen; irgendwann spricht er Anna direkt darauf an, dass sie die beiden Jungs, Alexander und Jonas, gegeneinander ausspielt: "Was machst du denn da eigentlich mit unserem Sohn? Akzeptierst du ihn nur, wenn er etwas leistet?"
Wenn der innere Kritiker alles andere überschattet
Der Konflikt zwischen Anna, Alexander und Jonas ist nur der Spiegel des anderen Erzählstrangs, der parallel verläuft: Im Projekt mit dem Streichquintett muss Anna sich schließlich ihrer Vergangenheit, vor allem ihrem gefühlten Versagen stellen. Die Gründe, warum sie damals dem Druck nicht standhalten konnte und aufgehört hat.
Annas Mann versucht sie zu überzeugen, dass sie gut genug ist, spielt ihr irgendwann später im Film eine Tonaufnahme vor.
"Schön", sagt sie. "wer spielt da?" "Du", sagt er. Eine ältere Aufnahme. Sie antwortet so etwas wie: "Das klingt irgendwie unfertig." Seine Antwort: "Das ist ja das Schöne daran!"
So gut getroffen, diese Szene bringt es wirklich auf den Punkt. Wie besessen streben wir in der Klassik nach Perfektion, können schwer darunter bleiben. Was ist mit unseren Ecken und Kanten, was ist mit dem Mut zur Lücke? Sind nicht die Performer, die uns begeistern, diejenigen, die sich offen und menschlich auf der Bühne zeigen? Wir wollen schließlich echte Menschen auf der Bühne sehen, echte Menschen wie wir selbst.
Anna geht nicht in den Kopf rein, dass sie irgendetwas zu sagen hat oder irgendetwas gut gemacht hat. Sie ist innerlich nur damit beschäftigt, ihre Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten vor den anderen zu verstecken. Anna spielt nicht nur im Quintett die zweite Geige, sondern auch in ihrem eigenen Leben. Anna, die sich kaum erlaubt, sich fallenzulassen, selten bei ihrem Mann, vielleicht eher bei Kollege Christian, der eigentlich ihr Liebhaber ist. Aber auch da ist sie übergangsweise, eine erneute Flucht vor echtem Kontakt, Flucht vor ihrem Leben. Von allen Menschen distanziert sie sich: Sohn, Ehemann, Vater, Kollegen. Ihre Zerrissenheit und Unsicherheit projiziert sie irgendwann auf Alexander. Sie kann ihrem Perfektionismus und ihren überhöhten Ansprüchen nicht gerecht werden, und lässt ihre Frustration darüber an ihrem Schüler und Sohn.
Wenige Wochen vor dem Vorspiel im Geigenunterricht:
Anna: Wie viele Stunden übst du am Tag?
Alexander: Zwei Stunden.
Anna: Dann übst du ab jetzt vier Stunden.
Alexander: Hatten Sie nicht gesagt, es kommt auf die Tiefe an, nicht auf die Menge?
Anna (geistesabwesend): Das habe ich mal gesagt, ja. Manchmal kommt die Tiefe eben durch die Menge.
So beginnt Anna, ihr schützendes Händchen schrittweise von Alexander wegzunehmen. Eintritt schwarze Pädagogik.
Der Moment der Übergriffigkeit
Und dann kommt die letzte Geigenstunde vor dem Vorspiel, in der Anna, durch die Frustration im Quintett-Konzert, die innere Spannung nicht mehr halten kann, und dann mit sich selbst und Alexander ungeduldig wird. Ihn immer mehr fordert, er solle immer wieder dieselbe Stelle im Presto wiederholen. Er verbessert sich zwar, aber dann kippt das auch noch mal. Es ist ihr noch nicht schnell genug. Er soll noch schneller spielen. Sie schlägt den Takt mit dem Bleistift auf den Holztisch. Er kommt nicht mehr mit.
Dann pusht sie ihn, es wird willkürlich, sie unterbricht ihn bei jedem Ton, „Nein, nochmal!“ - „Nein!“ - Sie lässt ihn immer wieder beginnen, bricht sofort ab. Sie schaltet das Metronom ein. So baut die Regisseurin langsam die Spannung auf, und die Zuschauer merken schon, wohin das führt. Alexander kann nichts richtig machen, egal, was er jetzt tut, es wird immer falsch sein. Anna ist nicht zufriedenzustellen.
Als sie in ihrer Verzweiflung merkt, dass sie so nicht vorwärts kommt, fängt Anna an, Alexander verbal mit seinen Baustellen zu attackieren: „Lass doch endlich mal die Schulter runter!“ Als das nichts bringt, geht sie über in die körperliche Übergriffigkeit. Sie befiehlt ihm, sich den Gürtel auszuziehen. Als er verneint, zieht sie ihn ihm mit Gewalt selbst aus.
Sie nimmt den Sandsack, der normalerweise dafür da ist, die Fenster offen zu halten, und bindet ihn Alexander mit dem Gürtel an die rechte Schulter. Unter der linken Achsel klemmt sie ihm eine leere Toilettenpapierrolle. Die soll auch nicht runterfallen jetzt.
"Und jetzt spiel nochmal!"
Er spielt, aber er versagt, geht ja auch nicht anders, es ist bereits gekippt. Diese Erniedrigung bringt bei Alexander dann endlich das Fass zum Überlaufen; die Wut kommt hoch, zu lange hat er das ausgehalten, er schmeißt die Konstruktion von sich, packt seine Geige ein und rennt wortlos hinaus, mit Tränen in den Augen. Zehn Tage später soll das besagte Vorspiel stattfinden, das Vorspiel, bei dem es um alles geht.
Der Erfolg und die Abspaltung
Anna sitzt also am Tag des Vorspiels im Hörsaal und wartet auf Alexander, dass er sein Presto von Bach für die Zwischenprüfung spielt. Aber Alexander ist nirgends zu sehen. Nachdem Anna eine ganze Weile nach ihm gesucht und auf ihn gewartet hat, gibt sie schließlich auf.
Und auf einmal, als letzter Teilnehmer, steht er da auf dem Podium. Anna hatte es nicht bemerkt, wie er sich noch durch den Hintereingang reingeschlichen hatte. Er steht auf der Bühne, wie erwartet, und trägt sein Presto von Bach vor. Lupenrein. Rasend schnell.
Und Anna, man sieht es ihr an: Anna ist zufrieden – die harte Arbeit hat sich gelohnt. Er spielt hervorragend. In ihrem Blick ist aber auch vor allem die Erleichterung zu erkennen – dass sie ihren Schüler nicht zu sehr kaputt gemacht hat und er ja daher doch noch erschienen ist. Später werden ihr alle Kollegen aus der Kommission wertschätzend gratulieren, dass sie nicht nur ein gutes Auge für ihn gehabt, sondern ihn auch noch brilliant unterrichtet und hervorragende Arbeit als Lehrerin geleistet hat. Auch die Mutter von Alexander schaut strahlend nach ihr.
Was praktisch niemand merkt, ist dass Alexander auf der Bühne quasi nicht anwesend ist.
Und dieser Punkt ist für mich im Film sehr gut getroffen:
Alexander spielt zwar brilliant, aber er kommt in seiner Musik nicht mehr vor. In seinen Augen ist Leere. Es strahlt auch längst nicht mehr das, was diese reine Kraft und Zartheit ist, die er sehr wohl vor einiger Zeit gezeigt hat. Sein Spiel ist mechanisch, ohne Leben.
Und das Schlimmste: keiner merkt das. Alle sind nur begeistert. Die Mitschüler, die Lehrerschaft, seine Mutter. Und besonders Anna.
Alexander spielt abgespalten von sich selbst, und keiner hat es gemerkt.
Dass Alexander hier schließlich doch noch angetreten ist, verdankt er seinem eigenen Fleiß und Motivation, nicht jedoch Annas Unterricht. Er hat es geschafft, sich über die demütigenden Stunden zu stellen und sich aus innerem Antreib auf der Bühne zu behaupten.
Spätestens hier sollte uns klar werden, warum Musikerkrakheiten ein systemisches Problem sind. Die Geschichte ist sehr überspitzt, alleine, damit wir eben ein Psychodrama ansehen können, brauchen wir diese kaputte Figur, die ihren Frust an andere projiziert. Aber Alexander ist kein Einzelfall, und auch Anna ist kein Einzelfall. Annas tiefster Punkt in der Geschichte ist, wie sollte es anders sein, nach dem Konzert mit dem Quintett erreicht. Sie flieht quasi vom Konzertort, fährt unkonzentriert durch die Nacht, streitet sich mit Philippe, dann, ein kleiner Unfall, und der Zusammenbruch, Tränen, Verzweiflung. Dass sich jemand mit Talent und Erfahrung nicht mehr auf die Bühne traut, und wenn, dann derartigem traumatischen Stress ausgesetzt ist.
Und Jonas? Der hat mehrere Menschen, die sich um ihn kümmern: sein Vater, seine Geigenlehrerin... Anna kommt gegen Ende des Films, nach ihrem Zusammenbruch und dem Vorspiel, schließlich ebenfalls zur Besinnung. Sie spricht die Erlaubnis aus: »Du darfst mit der Geige aufhören, wenn du das möchtest.« Und man kann nicht anders, als sich zu fragen, ob diese Erlaubnis mit dem Vorspiel von Alexander zu tun hat. Jonas bekommt am Ende der Geschichte sogar die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter - ein verstrickter, komplizierter Fall. Anna erkennt zum Schluss etwas, das sie schon immer hätte wissen müssen. Den Schluss möchte ich hier nicht preisgeben: Der Film bleibt bis zur letzten Szene ein tragisches Drama.
»Die Geige ist nur ein schmales Stück vom Leben«
Wie also entstehen großartige Musiker? Doch nicht etwa, in dem wir sie von Kindesbeinen an wie Dressurpferde trimmen? Wurde da nicht etwas verwechselt? Philippe spricht aus, was die meisten von uns denken: »Die Geige ist nur ein schmales Stück vom Leben«, sagt er zu Anna. Etwas ähnliches sagte mal ein Musiker zu mir, der sich in der Alten Musik international einen Namen gemacht hat, über einen klassischen Pianisten aus der russischen Schule, der bereits mit 20 Jahren ein weltberühmter Star wurde: »Er tut mir etwas Leid, er hat bestimmt nie Fußball gespielt.«
So schön es ist, wenn eine Blume blüht, so wenig Geduld haben wir darin, Musikern die Zeit und den Raum zu geben, dass sie sich entfalten. Das Leben leben. Wie wollen wir Dinge in Klang ausdrücken, wenn wir nicht die Zeit bekommen, Erfahrungen als Menschen zu sammeln und aus ihnen zu lernen? Alles muss schnell geschehen, und wir vergessen dabei, dass unser Nervensystem manchmal nicht folgen kann.
Was können wir aus dieser Geschichte lernen? Was können wir anders machen, dass die Annas dieser Welt gar erst nicht aufhören müssen, Musik zu machen? Dass die Jonas’ dieser Welt für sich selbst geliebt werden können und nicht für ihre (musikalische) Leistung? Dass die Alexanders dieser Welt nicht unzählige Erniedrigungen über sich ergehen lassen müssen, um es irgendwann »zu schaffen«? Dass Respekt, Wohlwollen und Wertschätzung die Grundlagen sind, auf der unsere Zusammenarbeit als Musikergemeinschaft basiert? Wann werden manche verstehen, dass nicht alles gilt im Namen der Exzellenz?
So viel Talent, so viele Träume, so viel Musik werden aufgrund von schlechter Beratung oder mangelnden gesunden Beziehungen täglich zunichte gemacht. Wann endlich begreift die Musikerwelt, und allen voran die Musikpädagogik, dass es bei Musik nicht um Noten geht, sondern um Menschen? Dass ohne die Musiker des Orchesters die Berliner Philharmonie allenfalls ein interessantes Gebäude in Architekturbüchern wäre? Wann verstehen wir als Kollektiv, dass es wichtiger ist, was Menschen in der Musik erleben, ausdrücken, empfinden, als andere zu beeindrucken?
Wir wissen, dass Musik nicht die Noten ist – warum aber verhält sich praktisch unser gesamtes System nach diesem Grundsatz? Warum ist die häufigste Frage, bei Anfängern wie bei renommierten Künstlern nach wie vor: »Bin ich gut genug?«
Nach dem Vorspiel ist vor dem Vorspiel
Es geht immer um das nächste Vorspiel. Nach dem Konzert ist vor dem Konzert. Nur Berufsmusiker der klassischen Musik finden es in Ordnung, keinen einzigen Tag Pause zu machen. Der Druck, die Konkurrenz, der Wettbewerb: All das treibt Musiker an, jeden Tag weiter zu machen, auch wenn der Körper und der Geist nach einer Pause regelrecht schreien. Jedes Vorspiel fühlt sich an, als ob es für den Rest der Laufbahn entscheiden würde: "Ein Musiker ist nur so gut wie sein letztes Konzert."
Auch wir sollten uns anschauen, wie wir mit unseren Schülern sprechen, wie wir ihnen begegnen, wie wir Druck auf sie ausüben. Ein wenig »pushen« mag ja auch Spaß machen und uns zu unserer Bestleitung führen. Dafür braucht es ein ausreichendes Maß an Vertrauen, an gutem Kontakt zwischen Schüler und Lehrer und an einer Bereitschaft für Wachstum bei beiden.
Ich finde zentral, dass wir diese Kompetenz erweitern, uns selbst und die Menschen um uns herum feiner wahrzunehmen. Dass wir einander tatsächlich begegnen und das Beste aus uns hervorbringen, aus einem Gefühl der Freude und Großzügigkeit, als aus einem Gefühl des Drucks.
Denn es kann nicht sein, dass Musik, die in sich pure Resonanz ist, Familien spaltet und die Menschen, die sie ausüben, krank macht, sowohl körperlich als auch mental.