Titelbild: Der Unterschied zwischen relativer und absoluter Solmisation

Der Unterschied zwischen der relativen und der absoluten Solmisation

Sollte man seinen Schülern in der (Instrumental- oder Gesangs)-Stunde das Notenlesen beibringen, und wenn ja, welche Verfahren kommen in Frage? In diesem Beitrag möchte ich die Ursprünge der Solmisation skizzieren, und drauf basierend, beide Ausprägungen gegenüberstellen: die absolute und die relative Solmisation.


Der Ursprung der Solmisation: Guido von Arezzo

Unter Solmisation versteht man das Bestreben, die Musiknoten mit Silben zu benennen, unter anderem mit dem Ziel, sich im Tonsystem besser einzufinden und Musik oder Musikkunde weiter zu vermitteln. Bereits in der traditionell chinesischen sowie in der indischen Musik wurden (und werden) Silben nach wie vor verwendet. In unserem heutigen Sprachgebraucht leitet sich das Wort "Solmisation" von zwei der verwendeten Silben Sol und Mi ab.

Guido von Arezzo (ca. 992 - 1050), auf den die westlich geprägte Solmisation zurückzuführen ist, entwickelte ein Verfahren, um Sängern zu vermitteln, an welchem Ort sie im Tonsystem waren. Dafür gab er den sechs Noten des Hexchords jeweils eine Silbe: ut, re, mi, fa, sol und la. Diese Silben waren aus dem sogenannten Johannes-Hymnus entnommen:


Die Johannes Hymne


Hier eine alte deutsche Übersetzung aus Wikipedia, übertragen auf die Noten G-E: Gib, dass mit lockerem / Ansatz singen können, / Herr, was du tatest, / Chöre deiner Schüler, / Dass dich ohne Fehl / Ehren unsere Lippen, / Heiliger Johannes.

Damit gab Guido den Silben keine festen Tonhöhen, sondern sie waren stets beweglich und nur in ihrer Relation miteinander zu verwenden, welches man heute als relative Solmisation bezeichnet. Mit der berühmten "Hand von Guido" vermochte er, die Stufen im Tonsystem zu vermitteln und damit auch den Sängern schneller neue Musik beizubringen:


Abbildung der Hand von Guido


Hier abgebildet die berühmte "Hand von Guido" – er zeigte auf die verschiedenen Teile der Hand und signalisierte damit die Noten, die zu singen waren. Abbildung von Wikipedia.


Die Weiterentwicklung der Solmisation in Europa

Ca. 600 Jahre lang wurde Guidos System verwendet und weiterentwickelt, bis schließlich französische Musiker um 1600 begannen, die Tonsilben auf festgelegten Noten zu geben. Damit beginnt der Weg der absoluten Solmisation, nämlich ein "fixes do" zu haben. Zusätzlich war es so, dass die diatonische Tonleiter immer mehr verwendet wurde, und es entstand das Bedürfnis, für den siebten Ton in der Skala eine Silbe zu finden. Diese wurde aus dem letzten Vers des Johannes Hymnus, "Sancte Iohannes" (si), gebildet. Parallel dazu wurde das ut für das do ersetzt, und damit standen die sieben Stufen der diatonischen Tonleiter: do, re, mi, fa, sol, la, si.

Ab dem Moment wurden diverse Vorschläge für "bewegliche" (mit beweglichem do) und "feste" Systeme (mit "fixem do") mit mehr oder weniger Erfolg unterbreitet. Darunter fällt auch das A-B-C-dieren (welches wir im deutschen Sprachraum auch heute noch kennen) und das von Jean-Jacques-Rousseau vorgeschlagene System für die Stufenbezeichnung mit den Ziffern 1 bis 7. Allgemein begann sich eine Abzeichnung zu etablieren zwischen der älteren, relativen Tradition mit dem "beweglichen do" und einer moderneren, absoluten Tradition, die mit dem "fixen do" arbeitete.


Die Entwicklung der Solmisation im deutschen Sprachraum

Die Engländerin Sarah Ann Glover (1785-1867) knüpfte im 19. Jahrhundert an den Ursprungsgedanken der Solmisation an und entwickelte die Methode weiter, indem sie die Silben vereinfachte und anglizierte. John Curwen griff Glovers Ideen auf und entwickelte daraufhin das Tonic-Sol-Fa-System, das mit großem Erfolg im Chorbereich angewendet wurde. Das besondere Merkmal, das Curwen hinzufügte, waren von ihm entwickelte Handzeichen, um die Silben visuell, etwa vor einem Chor, darzustellen:


Die Handzeichen von John Curwen


Das Tonic-Sol-Fa-System, insbesondere in Verbindung mit den Handzeichen, wurde in den folgenden Jahren weiterhin in anderen Ländern adaptiert: Im deutschen Sprachraum war es Agnes Hundoegger mit der sogenannten Tonika-Do-Methode, in Ungarn war es Zoltán Kodály mit seiner Kodály-Methode und in den USA Edwin E. Gordon mit seiner "Music Learning Theory".

Im deutschen Sprachraum versuchten sich neben der Tonika-Do-Methode noch zwei Systeme zu etablieren: einmal das sogenannte "Tonwort" nach Carl Eitz, ein "absolutes" System. Diese versuchte, jeden chromatischen und enharmonischen Ton zu benennen (und scheiterte daher m.E. an seiner Komplexität). Andererseits gab es noch das "Jale" nach Richard Münnich, ein "relatives" System das insbesondere in der DDR Anklang fand.


Der Unterschied zwischen der relativen und der absoluten Solmisation

Die relative Solmisation verwendet die oben genannten Silben und basiert auf einem "beweglichen do", das heißt, die Tonika heißt immer "do", egal, in welcher Tonart man ist. Sie vermag insbesondere die Funktion der Töne in einer Skala darzustellen. Der Leitton heißt dann immer Ti (oder Si, je nach dem, welche Silben man verwendet). Sind wir in C-Dur, werden wir dieselben Silben für dieselben Töne der Skala verwenden wie in E-Dur. In der moll-Skala werden in manchen Systemen unterschiedliche Silben vorgeschlagen. Damit kann eine starke Assoziation beim Musiker bewirkt werden, zwischen der Relation der Töne in einer Skala untereinander. Das ist natürlich hilfreich für viele Aspekte des Musik lernens, nicht zuletzt die Intonation und das Gefühl für die Skala oder das Tonsystem. Bekannt im deutschen Sprachraum sind beispielsweise die Tonika-Do-Methode und die Kodaly-Methode, die beide sehr ähnlich sind. Der Nachteil, zu jedem einzelnen chromatischen Ton der Skala zu haben, ist, dass man sich alle 21 Namen dieser Töne merken muss.

Die absolute Solmisation (oder auch Solfège oder Solfeggio genannt) verwendet zwar dieselben Silben wie die relative Solmisation (do bis si), basiert jedoch auf einem "fixen do", das heißt, jeder Ton hat einen eigenen (Silben-)Namen. Damit erweitert sich die Komplexität, die ein Musiker in der Lage ist, zu begreifen und darzustellen, denn nicht die Silben sollen einen Halt entlang des Tonsystems oder der Skala bilden, sondern ein natürliches Gefühl für die Tonart (nicht die Skala). Dieses Gefühl wird im Training der absoluten Solmisation entwickelt und später vorausgesetzt. Darauf kann man dann aufbauen und immer komplexere Musik darstellen. So kann sich die Tonart "C-Dur" gleichermaßen anfühlen wie die Tonart "E-Dur", obgleich verschiedene Silben verwendet werden. Grund ist, dass der Musiker sich in beiden Tonarten gleichermaßen vertraut fühlt und nicht vom Namen die Funktion ableitet, sondern vom Hören. Das befret, wie man hoffentlich sehen kann, die Kapazität, viele mehr Elemente darzustellen. Bei den moll-Skalen und bei allen Skalen allgemein werden weiterhin die sieben Stammsilben verwendet, ganz gleich, welche Relation die Töne und Halbtöne zueinander haben. Das klingt für manche vielleicht verwirrend, aber es ist gerade diese Tatsache, die die absolute Solmisation unschlagbar macht: Es werden nur diese selben Silben für alles verwendet – der Kontext drum herum wird trainiert und vorausgesetzt. Das erlaubt, sehr komplexe Musik kompetent auszudrücken, bis hin zur Neuen Musik.



Screenshot aus Studie über die Chinese Number Advantage


Was Mathematik mit der absoluten Solmisation zu tun hat

An dieser Stelle möchte ich eine kurze Eskapade in die Neurobiologie machen und von einem Phänomen berichten, das hier relevant ist. Dieses Phänomen ist die Tatsache, dass chinesische Muttersprachler anscheinend im Vergleich zu westlich geprägten Muttersprachlern besser im Fach Mathematik abschneiden. Dieses Phänomen wird als die "Chinese Number Advantage" bezeichnet und auch studiert – der Beweis, dass es ein Phänomen ist. Man kam zu dem Schluss, dass die Art und Weise, wie chinesische Muttersprachler ihre Zahlen aussprechen, ihnen einen Vorteil bereitet bei der Berechnung von Mathematikaufgaben. Anscheinend werden die Zahlen bereits so ausgesprochen wie kleine Mathemathikaufgaben: elf ist "zehn-eins", zwölf ist "zehn-zwei", zweiundzwanzig ist dann wiederum "zwei-zehn-zwei", dreiundzwanzig "zwei-zehn-drei", und so weiter. Kleine Matheaufgaben, die die Kinder ohne viel nachzudenken in wenigen Silben sagen – das ist die Chinese Number Advantage.

Der andere Aspekt, der für mich hier eine Rolle spielt, ist die Schnelligkeit, mit der diese Zahlen überhaupt ausgesprochen werden können. Man fand ebenfalls heraus, dass die sprachlichen Begabungen mit der mathematischen Begabung einhergehen und diese vor allem tief beeinflussen. Hier sind einige Beispielstudien, die das Phänomen beschreiben und untersuchen: The role of early language abilities on math skills among Chinese children (2017) // Linguistic influence on mathematical development is specific rather than pervasive: revisiting the Chinese Number Advantage in Chinese and English children (2015) // The role of mathematical language in mathematics development in China and the US (2019)

Das bedeutet, wir haben hier ein Phänomen, das besagt, dass wenn man Zahlen schnell aussprechen kann, sie das Gehirn auch schneller verarbeitet. Es liegt nahe, dass im Falle von Musik eine entsprechende Transferleistung liegen könnte. Meine Erfahrung mit der absoluten Solmisation hat mir gezeigt, dass sie genau aus diesem Grund so gut funktioniert. Zahlreiche Studien belegen dieses, beispielsweise diese Studie von Kristian Steenstrup (2021) an der Royal Academy of Music, Aarhus, Dänemark, bei der ermittelt wurde, dass im Falle des Quick Study diejenigen am besten abschneiden, die eine Mischung aus mentaler, physischer und Solfège-Praxis (absolute Solmisation) anwenden, um ihr Stück zu üben.


Der Vorteil der absoluten Solmisation gegenüber der relativen Solmisation

Oftmals wird an der absoluten Solmisation kritisiert, dass es nur darum ginge, Silben zu ersetzen statt C, D, E. Das Training der absoluten Solmisation ist so viel mehr als das. Die relative Solmisation dient des Lernens der Funktionen von Tönen in der Skala. Aber ab einem bestimmten Punkt, wenn die Musik komplexer wird, kommt die relative Solmisation schnell an ihre Grenzen. Wo bin ich, wenn ich bei jedem Akkord, jeder Note moduliere? Unmöglich, das auszudrücken. Absolute Solmisation ist ein Werkzeug, um Musik auf einen Blick sicher zu erfassen, zu singen und zu lesen. Nur, weil jemand sein Stück irgendwie entziffern kann, heißt noch lange nicht, dass die Person wirklich lesen kann.

Es ist ein Vorteil, nicht alle Vorzeichen zu sagen, wenn man in einer Tonart ist mit entsprechender Anzahl der Vorzeichen – denn zum einen wird das Zurechtfinden in der Tonart vorausgesetzt und zum anderen wird das Aussprechen der Silben schneller. Die Silbe dient dann als Platzhalter, und wie wir gesehen haben, je schneller das Gehirn Information verarbeiten kann, desto komplexer kann die Materie werden, die es verarbeitet. Das Gefühl für die Tonart wird ab einem bestimmten Punkt bei der absoluten Solmisation vorausgesetzt. Dadurch werden die Silben von der Funktionsnennung befreit, sie stehen für alles, was wir in dem Moment verstehen.

Wir sagen gerne, dass die absolute Solmisation das Bindeglied ist zwischen der Musikkunde und dem eigentlichen musikalischen Vortrag. Denn mit der absoluten Solmisation ist es möglich, jedes Musikstück auszudrücken, insbesondere die zeitgenössische Musik.


Warum ist es sinnvoll, die absolute Solmisation zu unterrichten?

In jeder meiner Stunden nehme ich mir etwas Zeit, das Notenlesen zu unterrichten. Das ist für mich eine gut investierte Zeit, denn so viele angebliche "Probleme" von Schülern lassen sich lösen, indem sie die Noten wirklich lesen, als ob sie ein Buch lesen würden. Das ist, was wir bei der absoluten Solmisation trainieren. Mittels vieler kurzer Übungen, die alle aufeinander aufbauen und die verschiedenen Elemente der Musikkunde trainieren, lernen Schüler, viele Ebenen mühelos miteinander zu verknüpfen.

Das Training des Solfège oder der absoluten Solmisation verknüpft folgende unterschiedliche Ebenen miteinander:

  • Notenbild
  • Kennen der Notennamen (Silben)
  • Sprechen der Silben
  • Notenhöhe
  • Pulsgefühl
  • Rhythmischer Wert
  • Gesungener Ton
  • Intervallkontext
  • Transfer auf das Instrument (=Spielen)
  • Schreibkompetenz
  • Lesekompetenz
  • Inneres Hören
  • Gefühl für die Tonart

Das heißt, wenn wir das Training der absoluten Solmisation betrachten, ist sie eine Ansammlung von all diesen Themen, die ich hier aufgezählt habe, die alle in diesen sieben kurzen Notensilben enthalten sind. Sprich: eine Silbe wird in eine Reihe von impliziten Assoziationen und von prozeduralen Mechanismen umgesetzt. So kraftvoll ist das Training der absoluten Solmisation. Es geht hier also nicht darum, die richtige Silbe benennen zu können, sondern dass diese Silbe in sich eine Reihe von zuvor trainierten Informationen zur Verfügung stellt.

Dadurch wird das einzige, was ich nach einiger Zeit zum Schüler sagen muss, der Satz: "[Name], bitte lesen" – und auf einmal klappt das Stück besser als vorher.


Wie kann ein Einstieg in die absolute Solmisation aussehen?

Im deutschen Sprachraum gibt es so gut wie gar keine Literatur oder Übungen zu diesem Thema. Wenn du neugierig bist, wie ein solcher Einstieg in die absolute Solmisation aussehen könnte, und viele praktische Übungen zum Anwenden auf den Instrumentalunterricht kennen lernen möchtest, empfehle ich dir meinen Workshop "Notenlesen unterrichten", für Lehrerinnen und Lehrer von Instrumenten und Gesang:



Neuer Kurs über absolute Solmisation





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