Titelbild: Wahrheit und Hype, der Fall Pogorelich


Wahrheit und Hype: Der Fall Pogorelich

Entgegen der Wahl des Publikums beschloss die Jury des Chopin-Wettbewerbs 1980, Ivo Pogorelich nicht zur Finale antreten zu lassen. Anscheinend schieden sich die Meinungen der Jurymitglieder wie bei keinem anderen Kandidaten: Von der einen Hälfte der Jury erhielt Pogorelich die höchste Punktzahl, von der anderen Hälfte die niedrigsten Bewertungen. Die Schlussfolgerung war demnach: er musste ausscheiden. Pianistin Martha Argerich zog als Jurymitglied ihre eigenen Konsequenzen aus der Affäre – sie trat aus Protest vor diesem Entschluss aus der Jury aus. »Er ist ein Genie!« soll sie gesagt haben.

Foto: Screenshot aus YouTube Video, Pogorelich beim Chopin-Wettbewerb

Deutsche Grammophon nahm den Pianisten direkt unter Vertrag und produzierte seine erste kommerzielle Schallplatte – ein Chopin-Rezital (1981). Gehyped von den einen, aufs Schärfste kritisiert von den anderen, gesetzt auf einen Sockel, nur um ihn bald davon herunter zu stoßen –man kann nicht leugnen, dass mehr Menschen von diesem etwas skandalösen Start einer Karriere profitiert haben, als der Künstler selbst. Der Fall Pogorelich gab die Bühne frei für spätere fulminante Karrieren vieler anderer junger Pianistinnen und Pianisten, einer exzentrischer als der andere, allesamt außergewöhnliche Spieler, aber nicht gerade bekannt durch ihre pianistischen Fähigkeiten. Künstler werden in dieser Marketing-Mühle ausgebrannt – bevor sie überhaupt reif genug sind.

Wie wenig hypefähig ist hingegen das ausgereifte Talent eines Grigori Sokolow, einer Alicia de Larrocha, eines György Sebők, einer Maria João Pires, oder sogar eines Đặng Thái Sơn, dem tatsächlichen Gewinner des 1980er Chopin-Wettbewerbs in Warschau. Das reife Talent berührt, bewegt, verändert den, der es hören durfte – es wird geschätzt, aber es ist nicht hypefähig. Es ist nicht schrill, es zeigt keine Haut. Es ist nur wahr, und das Wahre hat heute keinen Platz in der Öffentlichkeit, weil die Wahrheit komplex ist, und nicht so einfach zu erklären.

Wahrheit kann aber im Moment des Vortrages von innen heraus durchdrungen werden, ohne Worte; die Spielerin öffnet ein Fenster in eine andere Welt, und der Zuhörer kann ihr einfach nur folgen – es entsteht Verbundenheit, Innigkeit, Berührung, Kommunikation. Von außen betrachtet unspektakulär. Von innen betrachtet haben wir uns als Zuhörer und Spieler in dem Moment verändert. Und das ist der Grund, warum wir Musik machen, warum wir sie lieben und warum wir sie weitergeben.

Weil die Musik, die Wahre, einzig und allein in dem Moment unsere Seele berührt, in dem wir uns ihr öffnen können.

Doch unsere Aufgabe als Musikschaffende ist es nicht ausschließlich, Musik zu machen, oder sogar unsere Fähigkeiten als Künstler zu trainieren.

Unsere wahre Aufgabe ist die Öffnung, uns als Kanal freizumachen, sodass wir wahrhaft Resonanz sein können: als Spieler, Zuhörer und füreinander.





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