Geständnisse einer Nein-Enthusiastin
Ein ambitioniertes Programm
Mein erstes großes professionelles Projekt als Pianistin war ein Pasticcio von Kammerstücken von Neuer Musik in verschiedener Besetzung. Beteiligt waren Sopran, Bariton, Flöte und Klavier (moi 😅). Mal ein Lied, mal ein anderes Lied, mal ein Instrumental-Interludium, am Schluss eine Opernszene als Quartett, und natürlich das Klavier immer mit dabei. Musik von lebenden Komponisten, teils auch etablierten Komponisten. Ich bekam die Noten fünf Wochen vor dem Konzert, eine komplette Stunde Programm Neue Musik. Die Noten waren aber nicht vollständig: Der künstlerische Leiter, selbst Komponist eines der Stücke des Abends, wies mich darauf hin, dass die drei Interludien für Flöte und Klavier noch vom Kollegen geschrieben würden. As we speak, sozusagen. Die bekäme ich dann direkt vom Komponisten.
Ich hatte mit dem Rest Programm genug zu tun, begann also zu üben, und es war nicht gerade wenig, mal leichtere, mal ziemlich schwere Musik. Ich erstellte mir einen strikten Übeplan, den ich einhalten musste, damit das Programm in diesen fünf Wochen vorspielreif würde. Es war so viel Menge, dass es quasi um jede Stunde ging. Proben und Fahrzeiten musste man natürlich auch einkalkulieren, das würde auf die Übezeit gehen. Es war Sommer und ich gab kaum Unterricht, es konnte also klappen. Es war, genau genommen, der Sommer, in dem ich nach Berlin ziehen sollte.
Die ersten Noten werden nachgeliefert
Anfang von Woche 2 bekam ich das erste der drei Interludien für Flöte und Klavier ausgehändigt. Da ich keinen Drucker hatte, fuhr ich zum Komponisten, um es abzuholen. Dieses erste Intermezzo war ein Zwei-Minuten-Stück, für das ich zwei Wochen brauchen sollte, um es zu lernen. Es wurde in einem Affentempo gewünscht. Ich äußerte Bedenken, wenn die restlichen zwei Stücke nicht vor Ende der dritten Woche stehen würden, dass ich nicht genügend Zeit haben würde, sie vorzubereiten. Parallel musste ich nämlich noch 55 Minuten aus dem Programm weiterlernen.
Eine Woche später, in Woche 3, kam das zweite Interludium an, auch noch so ein schweres Stück, aber weniger als das erste. Ich nahm auch dieses ins Programm auf und begann es nun ebenfalls zu üben. Ich äußerte erneut den Hinweis: »Entweder die gesamte Musik ist bis Ende dieser Woche bei mir oder ich spiele sie nicht.« Das Konzert sollte in zwei Wochen stattfinden.
Entgegen meiner Vorwarnungen lieferte der Komponist das dritte Interludium in Woche 4, praktisch eine Woche vor Endproben. Es war, technisch gesehen, das Komplizierteste der drei. Zeit für mich, den Stecker zu ziehen. Ich sagte: »Ich habe so viel Musik “am Leben” zu erhalten bis zum Konzert, ich kann jetzt nicht nochmal alles beiseite legen und das gesamte Konzert aufs Spiel setzen, um zwei Minuten Musik zu lernen. Nein, ich spiele das Stück nicht.«
Die Bedeutung von »Nein« und »Ja« im Musikbetrieb
Eigentlich ist es im Musikbetrieb ein No-Go, Nein zu sagen. Warum sollte man sich die Türen versperren? Eher noch heißt es, so viel wie möglich, ja sogar frühzeitig »Ja« zu sagen, bevor man bereit ist dafür. So erging es beispielsweise Gerald Moore, dem renommierten englischen Liedbegleiter. In seiner Autobiografie "Bin ich zu laut?" beschreibt er, wie er in jungen Jahren eine Anfrage erhielt, ein Werk zu begleiten, das er noch nie gespielt hatte. Trotz fehlender Erfahrung mit diesem Stück sagte er zu, und übte es anschließend intensiv ein. Eine heikle Nummer, aber der Beginn seiner eigentlichen Karriere. Daraus lässt sich grundsätzlich ableiten, dass es eine förderliche Einstellung ist, »Ja« zu sagen, bevor wir bereit sind.
Aber wie verhält es sich, wenn wir spüren, dass dieses »Ja« nicht stimmig ist, ganz gleich, was die Konsequenzen sind? Dass die einzig vertretbare Antwort tatsächlich ein »Nein« sein muss?
Ich hatte damals keine Karrierepläne oder Absichten, die auf diesem einen Projekt aufbauten. Genau genommen sollte ich wenige Wochen später Barcelona sogar verlassen. Fühlte ich mich womöglich in einer stärkeren Position, als wenn ich in der Stadt geblieben wäre? Das kann ich nicht sagen, aber ich erinnere mich gut an meine Hauptmotivation: Ich wusste, wenn ich hier einknicke, bin ich selbst das erste Opfer. Ich wollte lieber sicherstellen, dass ich den gesamten Abend, das gesamte Konzert gut über die Bühne brachte.
Dieses Bedürfnis, mich nicht zu verbiegen – nicht für Projekte, nicht für Menschen, nicht für Erwartungen – hat mich auch später begleitet. Nicht nur im Konzertbetrieb, sondern auch im Umgang mit den Regeln drumherum. Ein Beispiel: Ich habe mich, außer einmal mit 28, nie für Förderprogramme beworben. Ich weiß, dass das für viele Musiker ein wichtiger Weg ist – aber für mich hat es sich nie richtig angefühlt. Ich möchte keinen Abschnitt 3, Absatz C irgendeiner Richtlinie erfüllen müssen, nur um ein Konzert realisieren zu dürfen. In der Zeit, in der ich einen Antrag recherchieren, schreiben und korrigieren müsste, kann ich das Geld auch gleich selbst verdienen. So tat ich es beispielsweise für die Sonder-Deluxe-Vorabedition von »Alles im Flow?« – meine Leser finanzierten das Buch, und das ermöglichte es mir, ein wahres Herzensprojekt in die Welt zu bringen, an dem viele Menschen direkt und indirekt beteiligt waren. Dadurch konnte ich etwas auf die Beine stellen, das es in dieser Form noch nie vorher gegeben hatte – und wie beim Konzert war das Entscheidende, dass es aus meinem Inneren kam, nicht von einer externen Vorgabe. Vielleicht ist das mein eigentlicher Grund, so gerne immer wieder zu meinem Nein zu stehen.
Woher meine Sicherheit kam – meine frühen Erfahrungen mit Nein
Woher kam diese Sicherheit? Von zu Hause hatte ich bis dahin ein wunderbares Vorbild gehabt: Mein Vater ist ein sogenannter »Nein-Champion«, er kann einfach Nein sagen und entspannt bleiben. Ein »Nein« wurde in meiner Familie schon mal akzeptiert, auch wenn es ein strenger Haushalt war. In meinem ersten Buch schrieb ich über den Versuch, den meine Mutter und meine erste Klavierlehrerin unternahmen, mich für ‘Jugend Musiziert’ zu begeistern. Ich war kategorisch dagegen – Nein dazu, vorgeführt zu werden. Bei dieser Art Gelegenheiten wurde ich niemals gezwungen. Interessant, dass es hier ein ähnlicher Fall war: die Musik.
Meine Mutter hat zwar das Nein ebenfalls gut zur Hand, sie fühlt sich damit jedoch nicht so wohl wie mein Vater. Das merkte ich als Kind vor allem daran, dass sie zum »Nein« immer Gründe liefern musste, um diese zu rechtfertigen; ein bisschen wie ein Geschenk, das ohne Geschenkanhänger womöglich nicht gültig wäre. Im Grunde genommen gab sie zur Absage statt Gründen immer Ausreden an, die eigentlich gar nicht stimmten. Anstatt also den wahren Grund für ihr Nein anzugeben, bekam das Gegenüber einen farblosen, geschmacksneutralen Ersatz. Das ergab überhaupt keinen Sinn, aber ich tat es ihr damals nach. Als mir das auffiel, war ich vielleicht 13-14 Jahre alt.
Ich begann, mich selbst darin zu beobachten, wie ich damals als Teenager, trotz einem gefestigten Nein, immer noch Ausreden dazu erfand, anstatt den wahren Grund anzugeben. Als ob das, was meine Realität war, nicht genug wäre. Ich gab dem Thema Aufmerksamkeit und mit der Zeit konnte ich meine Antworten ändern, und auch mein Gefühl dazu. Ich schaffte es immer besser, durch mein Leben zu gehen, ohne mich selbst zu belügen. Dazu brauchte ich Jahre, eigentlich Jahrzehnte, wenn ich ganz ehrlich bin. Wer mein erstes Buch gelesen hat, weiß, dass das einer der Gründe ist, warum ich mich mit Leib und Seele der Musik widmen wollte. Ich konnte in meinem Leben nicht ehrlich zu mir sein – nur in der Musik.
»Nein« und das Vergnügen, zu sich selbst zu stehen
Noch Jahre danach beschäftigte mich dieses Thema, bis ich lernte, zu sagen: »Da kann ich nicht.« – und keinen Grund dahinter nennen zu müssen. Das gibt mir das größte Vergnügen, an diesen Punkt gekommen zu sein. Absagen ohne Erklärung ist The last frontier, wie ich finde. Zu diesem Zeitpunkt war ich Mitte dreißig, als ich lernte: Ein Nein braucht keinen Grund. Ein Nein muss vollkommen ausreichen – in erster Linie für uns selbst.
In manchen Situationen kann es jedoch hilfreich sein, wenn man der anderen Person erläutert, was hinter unserer Absage steckt. Ein bisschen Kontext wie beispielsweise »Im Moment liegen meine Prioritäten woanders« helfen dem Gegenüber, uns besser zu verstehen. Letzten Endes möchten wir uns Raum schaffen mit dem Nein, aber die Verbindung weiter zu erhalten fällt leichter, wenn der andere unsere Entscheidung nachvollziehen kann.
Aber auch wir müssen lernen, mit dem Nein der anderen umzugehen. Wir alle bekommen manchmal Absagen: Können wir die Reaktionen der Person bei ihr belassen, anstatt sie wiederum auf uns selbst zu beziehen? Auch das hängt davon ab, wie wohl wir uns selbst mit unserem eigenen Nein fühlen.
Etwa zur selben Zeit, als ich lernte, dass ein Nein keinen Grund braucht, veränderte ein Nein-Experiment mein Leben. Ich meldete mich bei einer Challenge an, die besagte, jeden Tag einmal Nein zu sagen. Obwohl ich ein gefestigtes Nein hatte, hatte ich mir zu viel aufgebürdet, und schaufelte fast täglich neue, unnötige To-Dos auf meine Liste. Jemand aus meinem Ensemble brauchte eine Transkription? Ich machte sie natürlich, nicht die Person! Das Beste: sie hatte gar nicht danach gefragt – ich hatte es direkt angeboten. Dann kam die Challenge: Ich committete mich dazu, jeden Tag einmal »Nein« zu sagen, und nur durch diese kleine Veränderung wurde mir auf einmal bewusst, wie vielen Dingen ich Raum in meinem Leben gab, den sie nicht verdient hatten. Mit der Zeit fand ich Freude daran, Anlässe zu entdecken, bei denen ich mein tägliches Nein sagen konnte. Aus diesem ersten Impuls, die Dinge doch selbst machen zu wollen, obwohl es zu viel war, wurde eine gesunde Distanz – und zusammen mit dem Lernen, keinen Grund angeben zu müssen wuchs mein »Nein«-Muskel.
Bei meinem ersten professionellen Konzert war ich da aber noch lange nicht, das war fast zehn Jahre früher gewesen. Ich weiß bis heute nicht, was mich in der Hinsicht stark machte, aber ich bleib meiner Aussage: »Nein, ich spiele das Stück nicht.«
Das Finale des Projekts
Großes Drama folgte damals; der Leiter des Projekts, ein Argentinier, nahm alles furchtbar persönlich, dass ich dieses eine Stück nicht spielen wollte, der Komponist der Interludien auch. Beide waren im Vorstand des Verbandes Katalanischer Komponisten. Mir wurde gedroht, es wurde Unheil herabbeschworen – ich sage weiter »Nein«. “Kriegsrat” wurde kurze Zeit später abgehalten, nach dem Durchlauf in Woche 4, denn das Interludium musste gespielt werden – es gehörte zum künstlerischen Konzept. Ich erinnere mich, zu sechst oder siebt an einem Tisch in einer Kneipe im Bezirk Gràcia zu sitzen – mein Nein der Grund, warum diese Besprechung überhaupt einberaumt worden war, aber ich nahm es nicht zum Anlass, mich schlecht deswegen zu fühlen. Für mich war es einfach so.
Die beiden Komponisten engagierten eine weitere Pianistin nur für dieses Stück. Ich lernte sie in den Endproben kennen. Sie hatte ebenfalls bei meinem Prof studiert und wir freundeten uns an. Sie spielte das eine Interludium mit der Flötistin und ich alle anderen Stücke des Abends.
Nebenbei verhandelte ich meine Gage im Nachhinein neu, nachdem ich mitbekommen hatte, dass die Sänger und ich dasselbe Honorar erhielten – ich aber doppelt so lange spielte. Dass Sänger besser bezahlt werden als Begleiter, ist üblich – und eine Tatsache, mit der man als Pianistin leben lernt. Für mich war das damals neu; ich fand es unfair und legte das dem argentinischen Leiter am Telefon dar. Der war mittlerweile mit den Nerven am Ende. Seine Stimme überschlug sich, als er viel zu hastig sagte, er verstehe mich, aber er könne mir wirklich nichts, aber auch gar nichts versprechen. Ich bekam eine kleine Erhöhung im Nachhinein, die mir symbolisch eine Bestätigung gab.
Das Konzert wurde ein Erfolg. Ich verbuchte die Episode als einen guten Start für meine professionelle Laufbahn. Drei Wochen später zog ich nach Berlin, und die Frage, ob sie mich jemals wieder gebucht hätten, sei dahingestellt. Ich für mich hätte mir das dreimal überlegt, mit diesen Leuten wieder ein Projekt zu spielen, bei dem die Fördermittel unter anderem auch dafür verwendet wurden, dass sowohl der Projektleiter als auch der Komponist der Interludien (beide im Vorstand des Verbands der katalanischen Komponisten) ihre Musik uraufführen konnten. Womöglich war es nicht nur mein erstes professionelles Projekt, sondern auch das erste Mal, dass ich erleben konnte, was es heißt, eine Grenze zu setzen, ohne sich dafür zu entschuldigen. Ich denke mit Freude an diesen Moment, kann der frühen Maria einfach nur gratulieren.
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, wie mein Widerstand, mein »Nein«, mir seit Kindheit ein ständiger Begleiter war. Wie im Modulieren dieses »Neins«, im Einsatz zur richtigen Zeit, ich mir selbst immer mehr vertraute. Ich habe gelernt, dass man Beziehungen nicht nur durch ein »Ja« pflegen kann – sondern auch durch ein ehrliches, respektvolles »Nein«. Und dass man für andere am ehesten etwas tut, wenn man entschieden bei sich bleibt.
»Nein« ist ein Wort, das wir in der Regel mit Negativität gleichsetzen, und doch öffnet es so viele Möglichkeiten: nämlich die, die wir wirklich realisieren möchten. Denn ein Nein nach außen ist in Wahrheit ein inneres Ja zu uns selbst.
Und vielleicht, nur vielleicht, ist es ein Ja zu dem Menschen, der wir werden wollen.