Beitragsbild mit Bahn zum Artikel »Ich kann mich nicht mehr konzentrieren«

Eine Bahnfahrt mit Überraschung

Letzten Oktober war ich mit der Bahn nach Bonn unterwegs, und diese kleine Geschichte möchte ich dir nicht vorenthalten. Auf dem Weg nach Bonn blieben wir in Koblenz ​auf dem Bahnhof zunächst für ca. 30 Minuten stehen. Die Ansage lautete, irgendwelche technischen Fehler würden behoben werden. Fast alle Fahrgäste blieben entspannt sitzen, ich ebenfalls, manche wenige stiegen aus. Bis dahin eigentlich business as usual. ​Doch was danach kam, war haarsträubend. Nach den 30 Minuten kam zunächst​ die Durchsage, der Zug müsse seine Fahrt auf unbestimmte Zeit unterbrechen und wegen des Fehlers untersucht werden. Er werde zu diesem Zweck demnächst aufs Abstellgleis gefahren. Den Gästen sei freigestellt, auszusteigen und sich um eine andere Fahrtverbindung zu kümmern.

Gut, was soll's, ich begann, meine Sachen zu packen und ging mit meinem Gepäck bis vor die Tür, um auszusteigen – weiter kam ich nicht. Die Person vor mir schaffte es noch auf den Bahnsteig, währenddessen begann es zu piepsen und instinktiv wich ich zurück, da die Tür sich automatisch schloss. Wie in einem Vakuum wurde die Luft von außen rausgesaugt, als die Tür einrastete. Hinter mir warteten 6-7 Menschen mit ihrem Gepäck, alle bereit zum Aussteigen. Doch das Drücken des grünen Knopfes brachte nichts mehr, die Tür konnte von innen nicht mehr geöffnet werden. Wir standen kurz verdutzt da und fragten uns, was passiert sei, bis wir auf einmal einen kleinen Ruck bemerkten. Langsam aber sicher rollte der Zug aufs Abstellgleis und wir schauten sprachlos dabei zu. Es waren keine zwei Minuten seit der Durchsage vergangen.


Wo das Phänomen noch auftaucht

Dieses Beispiel zeigt auf, welche Art von Fehlern mir in der letzten Zeit begegnet sind, aber nicht nur bei der Bahn, das ist hier nur ein Beispiel, sondern in allen möglichen Situationen. Das Gravierende der Fehler, gerade weil es solch einfache Fehler sind, wird an diesem Beispiel deutlich: Denn damit Menschen aus einem vollen Zug aussteigen, braucht es mehr als 120 Sekunden Zeit, und mehr noch: Die Tür wurde ja verschlossen, während die Fahrgäste noch ausstiegen. Es bleibt also die Frage: Ist es fehlende Empathie, fehlendes Denkvermögen, oder eine Mischung aus beiden?

Wenn wir für einen Moment auf unseren Musikeralltag schauen, dann werden wir entweder bei uns selbst oder bei Kollegen, Schülern oder Studenten festellen können, dass manche nicht mehr in der Lage sind, sich für längere Zeiträume (etwa fürs Üben) zu konzentrieren. Eine der häufigsten Fragen aus meinem »Musik by heart«-Kurs: Okay, Maria, diffuser Modus schön und gut, aber wie konzentriere ich mich? Viele berichten, dass sie das früher mal konnten und vor allem mal Musik auswendig lernen konnten – nun nicht mehr.

Konzentrationsschwierigkeiten scheint eher die Jüngeren zu befallen, doch auch viele Berufsmusiker der älteren Generation sprechen manchmal mit mir darüber, dass sie sich nicht gut konzentrieren können – etwa im Konzert auf der Bühne, dass kleinste Ablenkungen sie bereits aus ihrer Mitte werfen. Eine Musikerin sah einmal​ beim Konzert aus dem Augenwinkel ein Kind in der ersten Reihe mit den Beinen baumeln – das brachte sie so durcheinander, dass sie in große Bedrängnis kam und sich oft verspielte.

In beiden Fällen, der Situation in Koblenz und der Situation mit den baumelnden Beinen eines Zuschauers, haben wir es mit den Folgen von geteilter und oberflächlicher Aufmerksamkeit zu tun, und das scheint das Phänomen der Zeit zu sein.


Die Ursachen und Folgen geteilter Aufmerksamkeit

Ich denke, ich verrate hier nichts Neues, wenn ich sage, dass es immer schwieriger geworden ist, sich auf das fokussieren, was wir vor uns haben. Nicht nur von außen werden wir abgelenkt, sondern die eigenen Gedanken bringen uns dazu, zu vergessen, was wir vor drei Sekunden entschieden hatten, oder die Ablenkung selbst im Außen zu suchen. Die Folgen im Alltag sind beispielsweise, dass viele Musiker in den letzten Jahren immer mehr das Gefühl haben, dass sie gerne mehr Zeit zum Üben hätten.

Vielleicht liegt es daran, dass Musiker mehr Projekte (oder Schüler) annehmen müssen als früher, um auf die Lebenskosten zu kommen. Die meisten glauben zu wissen, worum es im Kern wirklich geht: Man müsse nur die richtigen Prioritäten setzen. Aber genau da liegt der Denkfehler. Es geht nicht darum, ja die richtigen Prioritäten zu setzen – denn das allein reicht längst nicht mehr aus, und ich gebe dafür ein einfaches Beispiel.

Wir möchten gerne regelmäßig üben, um Fortschritte zu machen und Konzerte vorzubereiten. Dennoch verbringen viele von uns oft die erste wertvolle Zeit des Tages mit organisatorischen Kleinigkeiten (beispielsweise Absprachen besagter Konzerte) oder Ablenkungen (wie beispielsweise aufräumen). Wir tun das aus einem Gefühl, die dringenden Dinge zuerst erledigen zu wollen, denn dann »sind sie weg«, obwohl wir wissen, dass die Übezeit wertvoller wäre. Vielleicht ist es so, weil es leichter oder bequemer ist, sich kurzfristig einfacheren, dringenden Aufgaben zuzuwenden. Fakt ist, am Ende des Vormittages haben wir unsere Zeit in der ersten Hälfte mit banalen Dingen verbracht, und die andere Hälfte haben wir vielleicht geübt aber waren zu müde, um noch vernünftig etwas aufnehmen zu können. Und die Dinge, die nun »weg« sind, werden fix ersetzt durch die nächsten Punkte auf der Liste. Alles ist dringend und alles muss am besten gleich erledigt werden.

Kann die fehlende Tiefe in der Aufmerksamkeit also nicht auch daran liegen, dass wir zur Zeit so viele Dinge gleichzeitig machen müssen? Wir haben womöglich Schüler und Studenten, Familie und deren Bedürfnisse, kümmern uns um unsere Gesundheit, wir haben Hobbys und ein Sozialleben, neben der eigenen Übepraxis, der Akquise, der Konzertorganisation, etc.

Es ziehen zu viele Dinge gleichzeitig an uns – unsere Aufmerksamkeit ist geteilt, und es geht um genau dieses, um unsere Aufmerksamkeit, wenn wir mehr Zeit zum Üben haben möchten oder unsere Projekte voranbringen möchten. Wir müssen wieder lernen, sie sinnvoll zu lenken und uns nicht davon abbringen zu lassen, von dem, was uns wichtig ist. Genau genommen läuft in der Außenwelt seit Jahren ein regelrechter Krieg um unsere Aufmerksamkeit, denn das ist das Wertvollste, was wir haben – und nicht etwa unser Geld oder unser Besitz. Im Tausch für unsere Aufmerksamkeit zahlen Firmen bares Geld. Das sollte uns zu denken geben.

Wir wachen morgens auf und sind schon müde. Wir tauschen unsere Zeit, unsere Lebenskraft, unsere Aufmerksamkeit ein – wofür? Um eine Maschine am Laufen zu halten, die nicht für uns gebaut wurde? Wir bezahlen immer mehr für immer weniger Gegenleistung, manche arbeiten nur noch, um zu überleben. Wir verlieren den Überblick über das, was für uns essenziell ist, was uns wirklich lebendig macht, für Raum, um einfach nur zu sein.

In der Zeit, in der wir unsere Aufmerksamkeit einer Sache widmen, können wir sie nicht einem anderen Projekt zukommen lassen. Das ist ein Fakt. Wenn es darum geht, komplexe Projekte voranzubringen ist die Qualität der Aufmerksamkeit entscheidend.


Worum es hier eigentlich geht

Warum ist es wichtig, komplexe Projekte voranzubringen? Vor allem, um unsere menschlichen Fähigkeiten zu bewahren. Eine dieser Fähigkeiten ist unsere emotionale Intelligenz. Wir sind mit einem unglaublichen Werkzeug ausgestattet, unserem Gehirn und unserem Herzen, die in ihrer Zusammenarbeit weitaus intelligenter sind als jede Maschine. Gerade in einer Welt, in der Maschinen und künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben übernehmen, werden diejenigen Menschen erfolgreich bleiben, die sich ihre emotionale Intelligenz bewahren und bewusst mit ihrer Aufmerksamkeit umgehen.

Doch am Ende bewahren wir uns unsere menschlichen Fähigkeiten vor allem, um sie an andere weiterzugeben. Nicht etwa durch ein Belehren, sondern durch ein Vorleben – indem wir uns immer wieder für das entscheiden, was schwierig ist und wertvoll: für genau die Projekte, die unsere volle Aufmerksamkeit verdienen. Für dieses Vorleben brauchen wir einander, und schaffen gemeinsam Raum für die Ausschöpfung unseres Potenzials, unserer höchsten Möglichkeit. Vor allem jedoch bewahren wir uns unsere menschlichen Fähigkeiten für unsere Kreativität: um zu träumen und vor allem diese Träume für uns selbst und andere zu verwirklichen.

Woran auch immer du gerade arbeitest: Es lohnt sich, genau hinzusehen, womit du heute deine Aufmerksamkeit verbringst. Denn genau diese Entscheidungen werden darüber bestimmen, ob du morgen deine Träume verwirklichen kannst – auf der Bühne, beim Unterrichten oder in deinem ganz persönlichen Projekt.



Fünf Wege zum Flow





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