Ping! Anja schaut nach. Sie hat eine neue E-Mail mit dem Betreff: "Anfrage“.

Für einen kurzen Moment fühlt Anja sich schwerelos, fast, als könnte sie jeden Augenblick abheben. Das Herz macht einen kurzen Sprung. Das Pochen schwingt noch eine Weile nach.

Anfragen erfüllen Anja mit Freude und Schrecken zugleich.

Einerseits, die Freude, dass neue Arbeit reinkommt und die Miete des übernächsten Monats schon einmal sichert. Vielleicht. Kommt drauf an, was sie hier rausschlagen kann.

Andererseits sind Anfragen auch eine Quelle von Stress für Anja, denn da beginnt das Getänzele wieder einmal von vorne, wie bei jeder neuen Anfrage: Was soll sie nehmen? Was ist o.k.? Was nehmen die anderen? Ist sie zu teuer??

Und vor allem, immer die Angst im Hintergrund: Was ist, wenn ich zu viel sage und ich den Gig nicht bekomme? Was ist, wenn ich zu wenig sage und dann zwar den Gig bekomme, aber so viel Arbeit dahinter ist, dass es sich null gelohnt hat?

Die Anfrage ist auch nicht ganz ihr Metier; eine Geburtstagsfeier von einem Firmenkunden musikalisch untermalen am Klavier. Circa eine Stunde spielen. Komplett neues Repertoire für sie, aber relativ leicht zu lernen. Beziehungsweise, es gibt kein Klavier dort, sie müsste ein Keyboard mitbringen. Mist, das hat sie nicht. Aber sie weiß, wen sie fragen kann. Das sollte kein Problem darstellen.

Anja muss sofort ihre Freundin Julia anrufen. Julia kommt vom Theater; zwar herrschen dort andere Bedingungen, aber Julia ist ebenfalls freischaffend, Regisseurin, hatte bereits ein paar Projekte vom Hauptstadtkulturfonds gefördert bekommen. Julia weiß, wie man einen Businessplan aufstellt; sie ist schon oft in Verhandlungen gegangen.

Anja und Julia reden eine Stunde lang am Telefon. Danach fühlt Anja sich besser. Sie rechnet noch einmal durch, was Julia mit ihr besprochen hat. Sie verfasst mühsam eine längere Antwort an den Veranstalter. Abends fällt sie todmüde ins Bett. Die E-Mail hat sie noch nicht abgeschickt. Einen Tag dazwischen kann man ja lassen.

Am nächsten Tag schaut sie noch einmal über die E-Mail. Der Preis fühlt noch nicht ganz stimmig an. Bevor sie die E-Mail abschickt, rechnet sie noch einmal durch. Kürzt ihre Gage nochmal um 50 €. Sie beschließt, doch die E-Mail nochmal eine Stunde ruhen zu lassen.

Sie schaut mit frischen Augen drauf, es ist eine halbe Stunde vergangen. Sie beschließt, die 50 € doch noch draufzuschlagen, die sie vorhin abgezogen hat. Sie muss sich sammeln. Überzeugt ist sie nicht. Aber die E-Mail muss raus. Sie klickt auf "Abschicken“.

Sie hasst diesen Moment. Und sie hasst ihre Selbständigkeit. Sie fühlt sich ausgeliefert, ständig gegen die Zeit agieren zu müssen, und ständig mit diesem flauen Gefühl im Bauch, jedes Mal, wenn sie ihren Preis nennen soll. Zu wenig? Zu viel? Sie kann das nie wirklich abschätzen.

Der Veranstalter bedankt sich für die Antwort. "Wir melden uns in Kürze, sobald wir uns entschieden haben.“

Es vergeht eine Woche. Keine weitere Reaktion.

Soll Anja nachhaken?

Sie schickt eine kurze E-Mail: "Ich wollte kurz bei Ihnen nachfragen. Haben Sie sich schon entschieden?“

Der Veranstalter ruft sie innerhalb von einer halben Stunde an.

"Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich nicht vorher gemeldet hatte. Es war mir entgangen, dass muss ich leider zugeben. Wir hatten uns noch in der Region umgehört, wer die Feier untermalen könnte und sind auf einen anderen Pianisten gestoßen. Er hat uns einen Vorschlag gemacht und der Preis war einfach unschlagbar.“

Anja muss kurz schlucken.

Sie hat das Gefühl, alles in ihr sinkt zu Boden.

"Danke, dass Sie Bescheid gesagt haben.“

Sie legt auf und wählt die Nummer von Julia.




2009 war ich Anja. Diese Geschichte ist mir wirklich passiert. Ich war seit dem Ende meines Klavierstudiums 2004 bis vor ca. 5 Jahren gefangen in dieser ewigen Schleife.

Anfrage - Panik - Recherche - noch einmal Panik - weitere Recherche - Telefonate - Antwort verfassen - Antwort wieder und wieder neu schreiben - Preis immer wieder neu berechnen - E-Mail abschicken - Hoffen - Erleichterung (oder Frustration, je nach dem, wie die Antwort des Veranstalters ausfiel) - neue Anfrage

Der Satz "Der Preis war unschlagbar“ ist mir noch lange in Erinnerung geblieben. Da waren so viele Dinge falsch an diesem Satz.

Ich musste vieles ändern, damit ich jemals wieder solche Sätze hören noch ich sie überhaupt erwarten würde. Aber nicht im Außen, sondern an meiner innerem Einstellung, an meinem Mindset über Geld.

Heute weiß ich, wie ich Aufträge bekomme - wie ich sie wirklich bekomme, und wie ich das bezahlt bekomme, das ich finde, was ich wert bin.

Was ich sehe, wenn ich mich jetzt umschaue: Viele Kolleg*innen stehen nicht nur nach 10 Jahren in dieser Schleife, sondern auch 20, 30 Jahre nach dem Studium. Der Stress, die eigenen Preise zu gestalten und sie zu kommunizieren.

Wenn wir nicht einen Weg finden, mit unserer Tätigkeit Geld zu verdienen, müssen wir über kurz oder lang etwas anderes machen.

Dann hat niemand etwas davon.






Workshop für Musiker aller Instrumente, Gesang und Dirigieren







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