Chronik einer Stille von 25 Sekunden

Das Orchester beendet das Adagio. Langsam aber sicher geht es auf die letzten Klänge zu. Der Dirigent hält die Spannung, den Blick aktiv auf die Musiker gerichtet, die Arme bleiben oben. Doch sobald die letzte Note erklingt, bricht der Damm, das Publikum kann sich nicht länger halten: Es ist Zeit für den obligatorischen Hustenanfall. Laut, tosend, schnaubend. Überall um mich herum scheinen die Konzertbesucher der Meinung zu sein, gerade jetzt sei der richtige Zeitpunkt, um prophylaktisch mal seinem Hals Erleichterung zu verschaffen. Gerade jetzt, da der wunderschöne langsame Satz noch in der Luft, noch im Raum nachklingt. Gott helfe, dass sie sich gleich in ein paar Minuten räuspern müssen, während die Musiker spielen, das wäre ja furchtbar.

Ich sitze im großen Saal der Berliner Philharmonie und ja, ich geb’s zu, ich ärgere mich darüber. Es passt nicht in die Atmosphäre und niemand im Saat hat einen wirklichen Anlass zum Husten.

Ich glaube, der Anlass zum Husten ist die Spannung, die in der Stille entsteht. Während die Musik läuft, hat jeder etwas zu tun, und sei es einfach nur, zuzuhören oder den eigenen Gedanken zu folgen. Sobald ein Satz aufhört, und bevor der nächste beginnt, ist da Stille.

Nichts.

Und das macht Spannung.

Und nicht jeder kann damit umgehen. Für manche Menschen ist geteilte Stille nicht zu ertragen. Was soll man da sagen? Womit soll man diesen leeren Raum füllen? Denn wenn sie den Raum nicht mit etwas füllen, müssten sie sich ja mit sich selbst beschäftigen, mit dem, was die Musik in ihnen macht, wenn sie zuhören. Hm, nun ja, das ist nicht immer so einfach.

Vor einigen Jahren saß ich im Großen Saal der Berliner Philharmonie und es war für mich schier unglaublich, wie spontan diese Hustenanfälle von sich gingen. Es spielten Benjamin Zander und das Boston Philharmonic Youth Orchestra, ein sehr engagiertes, teilweise sehr junges Ensemble. Mit 14 eine Europatournee am ersten Pult und das Orchesterkonzert von Bartók gespielt zu haben, können nicht viele von sich behaupten. Die Hingabe und Energie, die dieser Klangkörper ausstrahlte, empfand ich als außergewöhnlich, selbst für ein Jugendorchester. Es war ein wunderschönes Konzert, und ich saß in der Chorempore, schaute direkt auf Zander, und war einfach gefesselt, trotz spontaner Hustenanfälle, die mich immer wieder in die Realität zurückholten.

Nach dem letzten Stück und einer langen Runde Applaus, das Konzert war offiziell beendet, wandte sich Zander ans Publikum, um die Zugabe anzukündigen. Er begann zu erzählen, dass er von ausgewanderten Berliner Juden abstamme, die 1937 nach England gezogen waren. Dennoch kamen neun seiner Familienmitglieder im Holocaust ums Leben. Er redete von der Liebe seines Vaters zu Berlin, von dessen Erzählungen über das lebendige Kulturleben der Stadt vor der Auswanderung, mit Otto Klemperer, Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter als aktive Dirigenten jener Zeit. Dieser Abend, dort, in der Philharmonie, war das erste Mal in seinem Leben, dass Zander in Berlin spielte, in ihrem einzigen Konzert in Deutschland, und es war ein besonderer Moment für ihn: seine Eltern, sagte er, wären glücklich und stolz auf ihn gewesen, hätten sie ihn in Berlin spielen gesehen. In diesem Erfolg, musste er zugeben, lag jedoch auch ein bittersüßer Geschmack, da diese Stadt noch immer mit so viel Schmerz für seine Familie verbunden war.

Er sagte dann, dass sie nun “Nimrod” von Edward Elgar spielen würden, aus den Enigma Variationen. Und dass dieses Stück für ihn den Wunsch ausdrückte, Frieden zu finden und in Freundschaft durch Musik vereint zu werden. Mit diesen Worten wandte er sich dem Orchester zu.

Einige werden das Stück kennen, vielleicht sich auch an den Moment erinnern, 2013 als der griechische Rundfunk die Schließung seines Symphonieorchesters bekannt gab. An einem Vormittag im Juni 2013 spielten die Musiker “Nimrod” als ihr letztes Stück vor, in ihrem Studio, und im Live-TV. Noch heute breche ich in Tränen aus, wenn ich das Video sehe. Eine Geigerin am ersten Pult, sie weint, während sie spielt. Ich schaue es mir an und es ist herzzerreißend, nur noch dieser eine letzte Ton, und danach ist es vorbei.

In Berlin, bei Zander und dem Jugendorchester, war die Spannung groß. Nicht nur durch die sehr persönliche Referenz zu Berlin. Nimrod ist eines der schönsten Musiken, die es für Orchester gibt, drückt sie diese bittersüße Trauer aus, diese Sehnsucht, diese tiefe, tiefe Sehnsucht nach Einheit. Wir waren alle durch diese einleitenden Worte von Zander berührt: das Publikum, die jungen Spieler und auch er selbst. Ich sah verbundene Blicke zwischen den Musikern, auch lag diese Berührung in der Luft, zwischen ihnen. Tränen kullerten mir die Wange herab, schon von der ersten Note an, und das Stück schwebte in den Raum und kehrte wieder, und es war ein einziger Kreislauf, der jeden von uns mitnahm, in einen einzigen gemeinsamen Moment. Mein Herz quoll über, nur noch dieser eine Ton, dieser eine, und dann war es vorbei.

Als der letzte Ton entschwand, hatte Zander seine Augen geschlossen, seine Arme waren oben. Und es war still.

Er blieb eine ganze Weile lang mit seinen Armen oben. Das ganze Publikum schaute zu, rührte sich nicht.

Ich hielt den Atem an.

Dann fing er an, langsam, sehr langsam, seine Arme nach unten zu senken. Die Zeit schien wie stehengeblieben. Und noch immer war es still, niemand rührte sich.

Nach ein paar Sekunden hörte ich auf, mir Sorgen zu machen, dass jemand klatschen und den Moment stören würde. Ich merkte: Ja, in diesem Publikum hatte es eine Veränderung gegeben. Diese Menschen spürten eine Verbundenheit, die nur Musik herzustellen vermag, ganz ohne Worte. Und niemand im Saal wünschte, diese Verbindung, diese Stille zu unterbrechen.

Zanders Arme waren bereits unten, an seiner Seite, und noch immer war es still im Saal.

Und dann entspannte er seine Arme.

Stille.

Und dann, der Applaus.

Der Applaus von 2.000 Menschen nach solch einem Moment war einzigartig, ehrlich, aufrichtig, berührt, erleichtert. Es war alles dabei. Später habe ich den Mitschnitt des Konzerts hören können; es waren insgesamt 25 Sekunden Stille gewesen. Solch ein unerwarteter Moment des Staunens, dass ich noch heute Gänsehaut bekomme, wenn ich daran denke.

Musik hat Kraft. Stille hat Kraft. Was will sich also ausdrücken? Was möchte sich durch dich ausdrücken? Wofür wirst du heute dieses kostbare Medium einsetzen, das ausdrücken kann, wo die Worte nicht mehr reichen? Was möchtest du in die Welt bringen?

Ich frage das, weil es mir wichtig ist. Es ist wichtig für mich, was du fühlst, wenn du Die Schöpfung singst. Ich möchte erfahren, was dich berührt, wenn du das Oboenkonzert von Mozart spielst. Ich möchte mitgerissen werden, dich sehen, und ich möchte mitbekommen, was dich bewegt, auch wenn es gerade nichts Außergewöhnliches gibt.

Es gibt dich, und das ist genug für mich.






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